Der langjährige Moskau-Korrespondent Ulrich Heyden, von dem gerade ein Buch über acht Jahre Krieg im Donbass erschienen ist, berichtet, was er gesehen und erfahren hat
Du hast ein neues Buch geschrieben mit dem Titel „Der längste Krieg in Europa seit 1945“, in dem du den Krieg im Donbass behandelst. Letzte Woche warst du noch einmal dort. Was waren deine Erlebnisse, was hast du gesehen?
Ulrich Heyden: Ich muss ganz offen sagen, dass das russische Verteidigungsministerium zu der Reise eingeladen hatte und dass ich mir die Gelegenheit nicht entgehen lassen wollte, in das Kriegsgebiet zu reisen. Das wäre zwar auch auf eigene Faust möglich, aber erfordert mehr Organisation und Vorbereitung. Ich habe es nicht bereut, dass ich mitgefahren war. Es waren ungefähr 20 Leute aus verschiedenen Ländern und wir waren praktisch in allen Gebieten in beiden Volksrepubliken Donezk und Lugansk.
Wir haben mit dem Präsidenten der Donezker Volksrepublik Denis Puschilin gesprochen. Ich habe ihn gefragt, wie das denn kommt, dass die Donezker Volksrepublik noch nicht völlig das ukrainische Verwaltungsgebiet Donezk erobert hat. Er sagte, das fand ich eigentlich sehr interessant, weil ich das noch nie gelesen oder gehört habe, dass es hier wie im Ruhrgebiet viele große Städte gibt, eine Stadt folgt auf die andere, es ist ein ähnliches Gebiet wie das Ruhrgebiet mit Kohle und Stahl. Da könne man nicht so schnell offensiv vorgehen. Außerdem hätten sich die ukrainischen Kräfte dort seit acht Jahren mit sehr viel Gerät eingebunkert, was ein großes Hindernis sei. Die Lugansker Volksrepublik hätte doch fast das ganze ehemalige ukrainische Verwaltungsgebiet Lugansk, das doppelt so groß ist wie die Volksrepublik Lugansk, eingenommen, wandte ich ein. Puschilin antwortete, dass der Nordteil des Lugansker Gebietes mehr agrarisch ist, dort gebe es eher kleine Dörfer, die man schneller erobern könne. Die Begründung fand ich nachvollziehbar.
Dieses Briefing fand auf der Straße im Zentrum von Donezk, wo am 14. März eine ukrainische Totschka-U-Rakete niederging. Deren Trümmer fielen auf diese Straße und töteten 21 Menschen, über 20 wurden verletzt. In den Marmorplatten an dem Haus und auch im Asphalt sah man noch die Löcher durch die Splitter der Explosion. Es waren große Schautafeln aufgestellt, auf denen man die blutüberströmt daliegenden Menschen und die nach dieser Explosion ausgebrannten Fahrzeuge sah. Das haben wir auch in Lugansk gesehen, wo auch Bilder ausgestellt wurden. Sie wollen damit erreichen, dass die Menschenrechtsverletzungen von den ausländischen Journalisten wahrgenommen werden, damit das im Westen bekannt wird, weil die beiden Volksrepubliken mit ihrem Schicksal nicht beachtet wurden.
Das war auch der Grund, warum ich mein Buch geschrieben habe. Ich dachte, es kann doch nicht sein, dass dort acht Jahre Krieg geführt und das in den deutschen Medien nur am Rande mit Formeln, aber nicht mit realen Geschichten und Bildern wahrgenommen wird. Diese Geschichten habe ich auch selber geliefert und in Alternativmedien veröffentlicht. In dem Buch habe ich viel von dem zusammengestellt, gekürzt, überarbeitet und auch angereichert mit neuen Materialien. Es ist also nicht nur ein Nachdruck, sondern auch eine analytische Aufbereitung des Ganzen.
Am Sonntag sind wir nach Wolnowacha gefahren. Das ist ein Ort 10 km westlich der ehemaligen Grenze der Volksrepublik Donezk zwischen Donezk und Mariupol und ein wichtiger Eisenbahnknotenpunkt. Das war eine der ersten Städte, die von den Donezk-Truppen und der russischen Armee nach dem 24. Februar erobert wurden. Die Kämpfe zogen sich zwei Wochen hin und waren absolut furchtbar. Als wir in die Stadt hineinfuhren, sah das alles erst einmal ganz friedlich aus und dann sah man schöne schmucke Häuser, von denen jedes dritte beschädigt oder zerstört war. In der Stadt lebten letztes Jahr 21.000 Menschen.
Wir fuhren ins Stadtzentrum, wo alles zerstört und ausgebrannt war, unter anderem die Bekleidungs- und Lebensmittelgeschäfte: ein schreckliches Bild. Hier sahen wir Militär-Lastwagen, davor Tische und Menschen, die Schlange standen und auf Lebensmittel warteten. Russische Soldaten und auch sogar eine Soldatin haben Reis, Brot, Mehl und solche Sachen in einer Tüte den Leuten übergeben. Niemand musste sich ausweisen, es ging freundlich zu. Die Leute waren still, haben sich bedankt. Ich habe versucht, mit den Leuten zu sprechen. Das ist mir auch gelungen. Natürlich erwarte ich nicht, dass da ein wildfremder Mensch mit mir ein offenes Gespräch führt. Ich habe versucht, in den Gesichtern zu lesen. Man merkte noch eine Anspannung, einen Schock und eine Verwirrtheit. So etwas habe ich das letzte Mal in Grosny erlebt. Ich war im Januar 2000 dort. Die Stadt war praktisch völlig zerbombt nach Kämpfen mit den Separatisten. Das vergisst man nie.
Was haben denn die Menschen erzählt? Haben Sie überhaupt irgendwas erzählt?
Ulrich Heyden: Doch, doch. Sie haben erzählt. Also ein Mann namens Anton, 25 Jahre alt, hat erzählt, dass sie praktisch mit der ganzen Familie in ihrem kleinen Haus zwei Wochen im Keller gewohnt haben. Es wurde scharf geschossen mit schweren Waffen in dieser Stadt, man konnte eigentlich nur unter Lebensgefahr raus und musste nachts auf die Toilette gehen. Später habe ich mir noch Videos angeguckt. Die Leute haben zwei Wochen lang in den Kellern gelebt. Mit Decken haben sie sich Lager errichtet. Das Leben fand für alle unter Tage statt, der Strom fiel aus, dann gab es auch kein Radio, keine Nachrichten mehr. Das heißt, die Leute lebten zwei Wochen mit Gerüchten.
In dem Ort waren vor der Eroberung ukrainische Soldaten?
Ulrich Heyden: Ja, klar. Die Ukraine war natürlich seit acht Jahren darauf vorbereitet, dass es Rückeroberungsabsichten geben kann. Der Chefarzt vom Krankenhaus, das auch stark zerstört ist, sagte, es habe eine Abteilung von Militärärzten gegeben, die dann, als die ukrainische Armee abzog, auch weggingen. Er erzählte, dass die Ukrainer schon am Anfang in das Krankenhaus gekommen seien und die Fenster im Erdgeschoss und ersten Stock eingeschlagen hätten, um von dort aus zu schießen. Nach Information vom Chefarzt habe es dann kein Wasser und Gas und auch keine Elektrizität mehr gegeben. Man habe trotzdem weitergearbeitet und operiert, auch ukrainische Soldaten.
Nahrungsmittelausgabe durch russische Soldaten und Soldatinnen in Wolnowacha. Foto: Ulrich Heyden
Wie geht es den Menschen denn? Kann man das sagen? Abgesehen davon, dass erst mal der Krieg zu Ende ist. Fühlen sie sich nach deinem Eindruck jetzt aufgehoben in der russischen Umgebung oder sind sie eher verbittert, weil der Krieg von den Volksrepubliken und von Russland ausging?
Ulrich Heyden: Also ich hatte den Eindruck aus den Äußerungen, dass sich die Verbitterung eher gegen die Ukrainer richtet. Ein älterer Mann sagte, sie seien vor allen Dingen sauer auf die Verwaltung, die sich einfach aus dem Staub gemacht und nicht einmal mitgeteilt habe, dass der Krieg anfängt.
Was du fragst, hat mich auch persönlich am meisten interessiert. Also, ob sie sich aufgehoben fühlen. Aber das ist sehr schwer zu erfahren. Wir hatten vielleicht eine Dreiviertelstunde Zeit, um mit den Leuten zu sprechen. Und schnell mal so ein tiefgehendes Gespräch über so eine Grundfrage zu führen, ist nicht so einfach. Ein Teil der Bevölkerung ist da geblieben, wie viel genau, kann ich nicht einschätzen. Ein großer Teil der Stadt ist wirklich verwüstet. Die Rede ist von 85 %. Bei den Menschen, die da geblieben sind, weiß ich nicht, ob es ihr Traum war, nun bei Russland oder bei der Volksrepublik Donezk zu sein. Das kann man nicht sagen, dazu müsste man mehrere Tage oder wenigstens einen Tag durch die Straßen streifen. Und selbst dann wird man wahrscheinlich nicht die eine hundertprozentige Auskunft erhalten, weil sich die Menschen natürlich auch auf die neue Lage einstellen.
Ich erinnere mich an eine Äußerung von einem Arzt vom Krankenhaus, der sagte: Wir haben im Keller Schutz gesucht und dann kamen die Soldaten und sagten, wir bleiben für immer. Das sollte wohl deutlich machen, dass die Soldaten aus den Volksrepubliken nicht kurz da sind und dann wieder abziehen. Die Menschen haben wahnsinnige Angst, sie kommen aus dem Keller heraus und freunden sich mit der neuen Macht an. Wenn die wieder abziehen würden, müssten sie sich rechtfertigen, wenn die ukrainische Macht wieder zurückkommt.
Ausgebrannter Markt in Wolnowacha. Foto: Ulrich Heyden
Es werden ja auch viele Videos gemacht, auf denen Menschen sich äußern. Wenn dann wieder ein Machtwechsel stattfindet, kann das natürlich hochproblematisch sein.
Ulrich Heyden: Sehr problematisch. Ich habe in den letzten acht Jahren im nicht von Kiew kontrollierten Donbass erlebt, dass Leute nicht vor die Kamera wollten, weil sie Verwandte in der Ukraine hatten und sie diese nicht in Gefahr bringen wollten. Das ist hoch kompliziert. Die Menschen stellen sich gezwungenermaßen schnell auf neue Verhältnisse ein, aber wie sie wirklich im Innern denken und fühlen, ist schwer herauszukriegen. Nach Untersuchungen weiß man, dass generell der Südosten der Ukraine eher russlandfreundlich gewesen ist. Das heißt nicht, dass man unbedingt für diesen Krieg gewesen ist, und es gibt jetzt das Risiko, wenn es zu viele Opfer gibt, dass Russland in der Ukraine an Sympathie auch bei den russlandfreundlichen Leuten verliert. Das kann man aber noch nicht abschließend sagen.
Es wird ja immer behauptet von Seiten der Medien, dass die Ukraine einiger geworden ist, dass die Spaltung innerhalb der Ukraine zwischen dem russlandfreundlichen Osten und den westlichen Teil überwunden wurde. Ist das so?
Ulrich Heyden: Dafür habe ich überhaupt keine Anhaltspunkte. Man muss ja berücksichtigen, dass es die freie Meinungsäußerung in der Ukraine seit acht Jahren nicht gibt. Es gab strengste Maßnahmen gegen russische Medien und gegen prorussische Äußerungen, Terror gegen russlandfreundliche Menschen, Überfälle usw. Und in diesem Klima überhaupt sagen zu können, was die Ukrainer in ihrer Masse wollen, ist schwierig. Man sagt, die Ukraine sei eigentlich ein freies Land, aber das ist leider nicht so.
Man muss nicht mit der russischen Parole der Entnazifizierung übereinstimmen, aber dass die Ukraine ein freies Land ist, wo man einfach auf die Straße gehen und seine Meinung äußern kann, stimmt nicht. Auf welcher Basis will man ermitteln, wie die Ukrainer ticken? Das scheint mir eine Interpretation auf einer völlig nebulösen Grundlage zu sein.
Ukrainische Ausrüstung in verlassener ukrainischer Artilleriestellung im Dorf Trjochisba im Gebiet Lugansk. Foto: Ulrich Heyden
Es wurden nach dem Kriegsrecht die Fernsehsender gleichgeschaltet.
Ulrich Heyden: Ja, aber das ging schon früher los. 2016 wurde ein prorussischer Fernsehsender in Kiew mit Granatwerfern angegriffen, ein anderer wurde umzingelt, bei einem dritten wurden die Redaktionsräume angezündet. Also das war 2016. Was da in der Ukraine für ein Klima der Angst in den letzten acht Jahren aufgebaut wurde, ist einem Deutschen schwer zu vermitteln. Das können eigentlich nur Leute, die sich ständig damit beschäftigen, aber die haben auch nicht die Mittel, alles, was da in den acht Jahren gelaufen ist, kompakt darzustellen, weil es keine Anknüpfungspunkte gibt, so dass die deutschen Medienkonsumenten sagen: Ah, da geht mir jetzt ein Licht auf, das habe ich schon mal von gehört oder so. Nein, das hat man alles nicht gehört. Das ist das große Problem.
Du hast acht Jahre lang die Entwicklungen im Donbass verfolgt. Journalisten und Politiker sagen, die beiden „Volksrepubliken“, das seien nicht mehr als kriminelle Vereinigungen, die Menschen würden unterdrückt und beherrscht von korrupten und machtgeilen Leuten. Welchen Eindruck hat man davon, wenn man von außen reinkommt?
Ulrich Heyden: Mein Eindruck ist, dass die Menschen dort sehr arbeitsam sind. Sie haben in großen Betrieben gearbeitet, ein bürgerlicher Widerstand ist da eher nicht Tradition, abgesehen von 2004, als bei der Orangenen Revolution Bergarbeiter aus Donezk nach Kiew gezogen sind, um für Janukowitsch zu demonstrieren. Aus deutscher Sicht würde man sagen, die Menschen sind patriarchal geprägt. Der jetzige Leiter von Donezk, Denis Puschilin, den wir getroffen haben, macht allerdings keinen patriarchalen Eindruck und fährt jede Woche zum Beispiel in andere Orte, die „befreit“ wurden. Nach seinem ganzen Auftreten ist er nicht mit Putin zu vergleichen.
Kommt er denn aus dem Donbass?
Ulrich Heyden: Ja, er hatte dort, glaube ich, auch eine Firma. Sein Vorgänger war der ermordete Alexander Sachartschenko, den ich auch mal interviewt habe. Der war erst Bergwerkselektriker und dann für eine Handelsfirma tätig. Natürlich gibt es den Geheimdienst und strengste Kontrollen. Man kommt in die Volksrepubliken schwer rein, man muss sich akkreditieren lassen, man muss manchmal sogar an der Grenze abgeholt werden. Einmal ist mir passiert, dass ich eine Nacht auf der russischen Seite übernachten musste, weil sie mich nicht reinließen, obwohl ich schon akkreditiert war. Es gibt zwei Akkreditierungen, eine zivile und eine militärische, d.h. für die Frontlinie braucht man eine militärische. Sie sind sehr interessiert, dass Journalisten kommen, um in die Öffentlichkeit zu kommen, aber gleichzeitig wollen sie genau kontrollieren, wer kommt.
Kann man sich dann wirklich frei bewegen? Oder ist es so wie früher in der ehemaligen DDR, wenn man eingeladen war, dass immer eine Person zur Kontrolle mitgegangen ist?
Ulrich Heyden: Das war manchmal so. Ich habe Interviews vor dem Krankenhaus in Wolnowacha oder an allen Stellen gemacht und gesehen, dass neben mir einer von den Soldaten von der Presseabteilung stand. Das fand ich überflüssig, weil sich derjenige, den ich interviewe, frei fühlen soll, da er sowieso schon verängstigt durch diesen Krieg ist. Aber das war nicht immer so, ich habe oft auch alleine gestanden. Aber es ist schon so, dass sie das möglichst kontrollieren wollen. Auf russischer Seite gibt es Korrespondenten, die frei berichten, die ihre Blogs und Live-Streams auch von Extremsituationen machen können oder exklusive Berichte bringen. Aber das sind dann auch Leute, die schon durch ihre Tätigkeit gezeigt haben, dass sie zu Donezk und zur russischen Intervention stehen.
Es gab Meldungen, nach denen Hunderte von Menschen in den Volksrepubliken verschwunden sind. Was weiß du darüber?
Ulrich Heyden: Im Dezember 2021 gab es eine Protestaktion von Menschen vor dem Amtssitz von Präsident Selenskij in Kiew, die Auskunft über den Verbleib ihrer seit acht Jahren im Donbass verschwundenen Angehörigen forderten. Die Menschenrechtsbeauftragte der Volksrepublik Donezk (DNR), Darja Morosowa, gab am 23. Dezember 2021 zu dieser Protestaktion eine Erklärung ab, aus der ich hier zitieren möchte. Die DNR-Menschenrechtsbeauftragte nannte die Forderungen der protestierenden Angehörigen „absolut logisch und begründet“. Zur Auffindung der Angehörigen brauche es eine effektive Arbeit, zu welcher das offizielle Kiew aber nicht bereit sei. „Mit ihrer Untätigkeit verlängert die ukrainische Regierung, das Leiden der Angehörigen. Im Rahmen der Minsker Vereinbarungen blockieren die Vertreter der Ukraine seit sieben Jahren beliebige Initiativen, die mit der Sucharbeit nach Vermissten verbunden sind.“ Kiew habe noch nicht einmal eine behördenübergreifende Liste aller Verschwundenen erstellt. Die Volksrepublik Donezk dagegen habe ihre Suche nach Verschwundenen in Massengräbern und an anderen Orten verstärkt. „In diesem Zusammenhang schlage ich den ukrainischen Familien, die Angehörige im Kriegsgebiet im Donbass vermissen, vor, uns Biomaterial für die weitere molekular-genetische Untersuchung in der Volksrepublik Donezk zu schicken.“ Die Untersuchung sei kostenlos. Morosowa kündigte damals an, dass man in Januar 2022 in der gerichtsmedizinischen Untersuchung eine biotechnologische Hightech-Anlage für diese Untersuchungen in Betrieb nehmen werde.
Was es allerdings seit Jahren gibt, sind Festnahmen von Personen, die man als ukrainische Agenten verdächtigt. So wurde am 6. April 2022 in der von russischen Truppen eroberten Stadt Cherson ein Mann festgenommen. Ihm wird vorgeworfen, er habe auf Anweisung des ukrainischen Geheimdienstes einen Anschlag auf einen für Kiew unbequemen Video-Blogger verüben sollen. Am 19. Februar 2022 wurde in der Volksrepublik Donezk ein Zöllner festgenommen, dem man vorwirft, er habe auf Anweisung von Kiew beim Schmuggel von Sprengstoff in die Volksrepublik Donezk geholfen. Es gibt in Donezk eine Menschenrechtsbeauftragte, Darja Morosowa. Ich müsste sie mal zu diesen Fällen befragen. Aber von Moskau aus ist das nicht so einfach.
Sind in Donezk russische Soldaten oder Truppen präsent?
Ulrich Heyden: Wir wurden bewacht von einer russischen Einheit. Nicht dass man uns isolieren wollte, sondern es bestand ja eine reale Gefahr, dass auf uns auch irgendwelche Anschläge verübt werden. Auf unserem Bus gab es einen riesigen „Presse“-Schriftzug. Vor und hinter uns fuhren gepanzerten Fahrzeuge, eines mit einem aufgesetzten Maschinengewehr. Wir haben zum Beispiel in Donezk die „Allee der Engel“ besucht. Das ist ein Park, in dem 100 Kindern gedacht wird, die im Krieg umgekommen sind. Im Abstand von vielleicht 100 Metern standen dann im Kreis und mit dem Rücken zu uns Menschen mit Uniformen und Gewehren, um uns vor möglichen Angriffen abzuschirmen sollten. Das war öfter so, wenn wir zu Fuß unterwegs waren, dass so ein Kreis gebildet wurde. Das habe ich aber nicht als Behinderung unserer Arbeit, sondern eher als Schutz gesehen.
In allen Pressemitteilungen, die ich gelesen habe, hieß es immer, die Donezker Armee sei wieder um 10 km vorgerückt. Es sind ja immer sehr kurze Strecken, die mit Artillerie-Unterstützung der russischen Armee vorgerückt werden kann. Puschilin hat in einem Interview erklärt, dass man sich Russland sehr verbunden fühlt und gerne Teil Russlands sein würde. Aber warum fragst du, ob es russische Truppen in Donezk gibt?
links Bus der Journalisten und Begleitfahrzeuge und Begleiter. Foto: Ulrich Heyden
Es heißt, die Streitkräfte von Donezk und Lugansk würden zum großen Teil aus russischen Soldaten bestehen, die dorthin geschickt werden.
Ulrich Heyden: Das glaube ich nicht. Nach allem, was ich beobachtet oder gehört habe, ist es so, dass diese Streitkräfte aus Menschen aus der Region bestehen, die jetzt für diesen Krieg mobilisiert wurden. Auch davor umfasste die Armee der Volksrepubliken schon 30.000 Soldaten. Viele derjenigen, die 2014, 2015 freiwillig aus Russland gekommen sind, waren Menschen, die dachten, sie gehen jetzt weiter bis Kiew. Das hat sie beseelt, also nicht ein Stellungskrieg oder die Einhaltung der Minsker Abkommen. Deswegen sind dann auch viele wieder nach Russland zurückgegangen.
Bei allen russischen Medienmeldungen fiel mir auf, dass immer sehr stark betont wird, dass die Armeen von Donezk oder Lugansk Städte erobern und vorrücken. Wie groß der Anteil der Russen dabei ist, weiß ich nicht. Sicherlich gibt es sehr viele russische Berater. Die russische Artillerie-Unterstützung spielt auch eine große Rolle. Aber es ist schwer zu sagen, was das Entscheidende ist, der Nahkampf auf dem Feld oder die Artillerie. Am gefährlichsten ist natürlich das Einnehmen von Häusern, Brücken usw. Da kämpfen vermutlich viele Einwohner der Volksrepubliken.
Du hast vorhin von dem Raketenangriff aus der Ukraine gesprochen. Donezk wird also noch erreicht von der ukrainischen Artillerie, es gibt weiterhin Angriffe?
Ulrich Heyden: Wenn man sich die Karte anschaut, ist das irre. Ich habe gestern noch mal auf der Website des russischen Verteidigungsministeriums geguckt. Merkwürdigerweise gibt es keine Abteilung „Spezielle Militäroperation“, wo man aktuelles Kartenmaterial einsehen kann, zumindest habe ich nichts gefunden. Aber man findet im Internet massenweise Karten, die auf Grundlage von russischen Militärberichten erstellt werden. Da sieht man, dass vom ukrainischen Verwaltungsgebiet Donezk nur ein kleiner Teil eingenommen wurde.
Es ist natürlich wirklich tragisch, dass fünf Wochen nach Beginn des Krieges nach wie vor Raketen auf Donezk niedergehen. Vor ein paar Tagen wurde wieder ein Haus in Gorlovka beschossen, das nah an der Frontlinie liegt. Das ist möglich, weil die Raketen 80 oder 100 Kilometer weit fliegen und die Stellungen der ukrainischen Kräfte nicht weit entfernt sind. Das ist schon irre, weil der Grund für die militärische Operation von Putin ja die Sicherheit des Donbass war und die gibt es nach wie vor nicht. Auch die russische Luftabwehr funktioniert nicht hundertprozentig. Wie kann es kommen, dass die ukrainische Totschka-U-Rakete überhaupt bis ins Stadtzentrum von Donezk fliegen konnte. Sie wurde erst von der Luftabwehr abgeschossen, als sie sich schon über Donezk befand. Die Situation ist noch sehr instabil und auch gefährlich für die Menschen und für jeden Besucher, selbst wenn er/sie mit schusssicherer Weste und Helm herumläuft.
Andenken an Explosion einer Totschka-U-Rakete im Zentrum von Donezk. Foto: Ulrich Heyden
Wie geht denn die Bevölkerung auf die Straße? Mit normaler Kleidung?
Ulrich Heyden: Die Journalisten erscheinen mit Schusswesten und Helmen, als würden sie vom Mond kommen. Die Bewohner der Volksrepubliken tragen normale Zivilkleidung. Sie kennen den Krieg seit acht Jahren. Die Videos sind immer herzzerreißend, wenn die Menschen weinen und jammern und keinen Ausweg wissen. Da fragt man sich auch, wie es kommt, dass sie es da so lange aushalten? Aber sie haben keine Alternative. Es sind vor allem ältere Menschen, bei denen die Bereitschaft, den Wohnort zu wechseln, immer sehr gering ist, Auf der Straßen gehen nicht viele Menschen, vor allen Dingen sieht man wenig junge Leute. Das ist auffällig.
Es sind ja auch einige evakuiert worden und die jungen Männer wurden wahrscheinlich eingezogen.
Ulrich Heyden: Genau. Ich glaube, 150.000 sind evakuiert worden.
Zum Abschluss. Die Zeitung „der Freitag“ hat dich nach jahrelanger Zusammenarbeit zumindest für die Dauer des Ukraine-Krieges gesperrt. Du kannst dort keine Artikel mehr publizieren. Hat sich da etwas Neues ergeben, hat die Redaktion noch einmal Stellung bezogen?
Ulrich Heyden: Es gibt einen Brief des Chefredakteurs an mich, den ich öffentlich gemacht habe, weil ich einfach sehr sauer war. Vom Gefühl her habe ich auch keine Lust mehr für den „Freitag“ zu schreiben. Ich habe in den letzten zehn Tagen sehr viele Mails von „Freitag“-Abonnenten erhalten. Sie waren eigentlich an die Redaktion gerichtet, wurden aber CC auch an mich geschickt. Sie kritisierten meine Sperrung als Eingriff in die Pressefreiheit, sie würden mich als guten Journalisten kennen und hätten Angst, dass der „Freitag“ sich anpasst. Deswegen würden sie ihr Abo kündigen oder dies beabsichtigen, wenn sich nicht sofort etwas ändert. Ich bin nicht so eingebildet, dass ich glaube, dass ich eine besondere Persönlichkeit bin, ich habe das einfach als Zeichen dafür gesehen, dass die Menschen Angst haben, dass in Deutschland der Meinungskorridor eingeschränkt wird und dass dies gerade bei einer Zeitung wie der „Freitag“ stattfindet, der bisher eine wichtige Rolle spielte und nicht jeden Mainstream-Unsinn mitmachte. Also ich bin den Briefeschreibern sehr dankbar, obwohl ich gar nicht so froh bin, wenn sie das Abo kündigen. Das war gar nicht meine Absicht, denn natürlich gibt es im Freitag gute Artikel.
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Hast du denn das Gefühl, dass du, weil du schon sehr lange Zeit in Russland lebst, vielleicht eine andere Perspektive hast als die meisten deutschen Medien-Korrespondenten, die da oft ja nur für kurze Zeit in Russland leben?
Ulrich Heyden: Auf jeden Fall. Man kommt mehr mit der Sichtweise der Russen in Kontakt und vergleicht ständig die russische und die Sichtweise des deutschen Mainstreams. Ich bin in Russland auch familiär gebunden, ich kenne die Eltern meiner Frau, der Vater war im Krieg, er musste als Fünfjähriger mit seinem Bruder und seiner Mutter mit der Eisenbahn vor der deutschen Armee flüchten. Sein Vater starb in einem Kriegsgefangenenlager bei Oerbke, einem Dorf in der Lüneburger Heide, auf offenem Feld, weil die sowjetischen Gefangenen nichts zu essen bekamen und unter freiem Himmel schlafen mussten. Ein solcher Hintergrund berührt einen sehr emotional, und man merkt einfach, dass die deutsch-russische Geschichte leider immer mehr aus der öffentlichen Debatte in den Hintergrund gedrängt wird, weil sie einfach stört und in gewisser Weise eher dazu geeignet ist, die russische Position zu verstehen, was Sicherheitsinteressen und die Angst vor der Einkreisung betrifft.
Der Zweite Weltkrieg und der Faschismus sind in Russland noch sehr präsent? Also nicht nur bei Putin, sondern auch in der Bevölkerung?
Ulrich Heyden: Das würde ich schon sagen. Ich glaube, in der Ukraine ist der Zweite Weltkrieg in der russischsprachigen Bevölkerung auch präsent. Von Deutschland aus sieht es vielleicht eher so aus wie eine organisierte Massendemonstration am 9. Mai, wenn die Menschen beim Marsch des „Unsterblichen Regiment“ mit hunderttausenden Leuten und mit den Porträts ihrer Angehörigen auf der Straße sind. Das ist natürlich schon organisiert, aber der Zweite Weltkrieg ist nach wie vor ein starker Bezugspunkt und spiegelt sich in Liedern, in Spiel- und Dokumentarfilmen wieder, die Deutsche leider nicht kennen, weil sie im deutschen Fernsehen nicht gezeigt werden. Diese Filme sind oft von hohem künstlerischen Wert und gar nicht Propaganda-mäßig. Die Leute in Ostdeutschland kennen sie eher, und das ist auch ein großer Unterschied zu Westdeutschland, dass da das Wissen über die russische Kultur stärker ausgeprägt ist. In Westdeutschland wird sowjetische Kultur immer gleichgesetzt mit „Imperium“ und „Imperialismus“. Das ist einfach zu kurz gedacht. Da geht um wirkliche um menschliche Schicksale.
Gut, bei der Jugend gibt es schon Tendenzen in den letzten Jahren, dass sie sich darüber lustig machen. Jugend revoltiert immer gerne, es gab oft Vorfälle, dass Jugendliche am Grab des unbekannten Soldaten eine Fotosession machten oder dort Würstchen grillten, um zu provozieren. Die russischen Massenmedien funktionieren nach ähnlichen Prinzipien wie die westlichen, es wird mit Sensationen gearbeitet oder über das Leben von Schauspielern oder anderen Prominenten aus Russland oder aus Hollywood berichtet, die sich geschieden haben, verliebt sind oder ein neues Auto kauften. Das passt zur Verbrauchergesellschaft, die in Russland auch Wurzeln geschlagen hat. Dieses Gedenken an den Zweiten Weltkrieg und der Patriotismus passen nicht so richtig in die Konsumgesellschaft. Kaufen und Verkaufen hat nichts mit dem Zweiten Weltkrieg zu tun. Es gab Versuche, eine Verbindung zu heute herzustellen. Ein russischer Regisseur hat einen Film über Jugendliche gemacht, die durch einen Wald laufen. Auf einmal schlägt eine Bombe ein, und dann wird 70 Jahre zurückgeblendet in den gleichen Wald. Das war so ein Trick, die Jugendlichen daran zu erinnern, dass so etwas wieder passieren kann.
In den letzten Jahren wurden in Moskau viele neue Gedenkstätten errichtet, es gibt Schulen, in den ein Zimmer eingerichtete wurde, zum Gedenken an frühere Schulabgänger, die sich 1941 freiwillig zur Front gemeldet haben. In diesen Schulmuseen erfährt man etwas über das Schicksal der Freiwilligen von 1941, wie sie gekämpft haben, wie sie gefangen genommen wurden usw. Die patriotische Erziehung wurde in den letzten Jahren verstärkt. Ich selbst habe an einer Fahrt nach Wjasma teilgenommen, wo im Oktober 1941 Hunderttausende sowjetische Soldaten eingekesselt wurden, viele starben oder in Gefangenschaft gerieten. Das ist auch ein Thema, welches in Russland nie groß an die große Glocke gehängt wurde. Die Erinnerungskultur in Russland war eher auf heldenhafte Kämpfer ausgerichtet. Man sprach nicht über Kriegsgefangene oder über Kessel, sondern lieber über die Einnahme von Stalingrad oder den Sieg bei Kursk.
Du hast von der Verbrauchergesellschaft gesprochen. Jetzt haben sich viele westliche Firmen aus Russland zurückgezogen. Ihre Produkte gibt es nicht mehr. Man kann auch nicht mehr mit den Kreditkarten zahlen. Das Leben wird sich verändern, was den Konsum angeht. Gibt es schon ein Murren in der Bevölkerung? Oder heißt es, na gut, dann kaufen wir halt russische Produkte?
Ulrich Heyden: Also gemurrt wird nicht. Was ich so mitkriege, stellen sich die Leute einfach pragmatisch um. Es werden neue Firmen gegründet und neue Pläne geschmiedet, obwohl das natürlich wahnsinnig schwer ist vor dem Hintergrund, dass wirklich eine komplette Umorientierung stattfinden muss. Ich war auch gewohnt, dass es oppositionelle Fernsehsender gibt und dass dadurch die Macht auch immer durch frontale Kritik herausgefordert wird. Das gibt es jetzt nicht mehr. Man muss jetzt schon sehr vernetzt und viel unterwegs sein, um wirklich rauszufinden, was der Russe oder die Russin denken. Natürlich befindet sich Russland in einer Art Kriegszustand. Die Medien berichten entsprechend positiv und nicht negativ.
Eigentlich bin ich optimistisch, dass Russland einen Weg findet. Es wird sehr schwer werden. Zum Beispiel fahren fast alle Russen ausländische Autos. Die Preise für Reparaturen haben sich schon verdoppelt, weil Ersatzteile irgendwie auf Schleichwegen besorgt werden müssen. Die einfache Zündkerze kostet doppelt so viel Geld. Die Russen sind totale Autofanatiker. Überall steigen die Preise. Das ist schon ein Problem.
Erst einmal danke für das ausführliche Gespräch und viel Erfolg für dein Buch. Kann man es schon kaufen?
Ulrich Heyden: Ja, es ist ein Book on Demand, das heißt, es wird bestellt, dann gedruckt und erst nach sechs Tagen liegt es im Briefkasten. Ich kann es aber auf jeden Fall empfehlen, weil es ein einzigartiges Buch ist. Das sage ich ohne eingebildet zu sein, weil es einen guten Überblick schafft, wie sich dieser Konflikt im Donbass entwickelt hat. Es gibt auch eine Chronologie und die verschiedenen Kriegs-Etappen der letzten acht Jahre werden analysiert.
veröffentlicht in: Krass und Konkret