Praktischen Nutzen hatten diese Kerzen für die Ostdeutschen nicht. Sie gaben uns Westdeutschen aber ein Gefühl auf der besseren Seite der Welt zu leben. Die Kerzen dienten auch zur Beruhigung unseres christlichen Gewissens. Denn wir lebten ja – unter anderem Dank US-amerikanischer „Wirtschaftshilfe” – besser als die Ostdeutschen, bei denen es an vielen Waren mangelte.
Ab 1990 war es mit dem Bangen um die “Brüder und Schwestern” in der DDR schlagartig vorbei. Nun mussten sie sich von einer deutlich schlechteren Start-Position – ohne große Erbschaften, Netzwerke und eigene Industriebetriebe – im Kapitalismus westdeutscher Art bewähren. Fast alle großen Industriebetriebe der DDR wurde von westdeutschen Verwaltern wegen “Ineffektivität” geschlossen und für wenig Geld an westdeutsche Firmen verkauft.
„Wie geht es unseren Leuten?“
Als ich in den 1990er Jahren durch Weißrussland und die Ukraine fuhr, haben oft Menschen gefragt, „wie geht es denn unseren Leuten“? Gemeint waren die Bürger aus den ehemals sozialistischen Staaten Osteuropas. „Leben sie besser?“
Ich hielt mit meiner Meinung nicht hinter dem Berg und sagte, dass die westdeutschen Eliten, die Ostdeutschen nicht als gleichberechtigte Bürger in den nun gemeinsamen Staat aufnehmen. Viele reagierten auf meine Erzählung mit enttäuschten Blicken. So gerne hätten sie ein schönes Märchen gehört, wie Menschen ohne großes Eigentum eine Chance im Westen bekommen.
Einige Ostdeutsche schafften es, Karriere zu machen. Zu ihnen gehört der letzte Innenminister der DDR, Peter-Michael Diestel, jetzt ein erfolgreicher Rechtsanwalt. Diestel ist zwar Mitglied der CDU, aber er hat seine Ostdeutschen nicht vergessen. Vor kurzem hat er in der Berliner Zeitung anhand von Zahlen gezeigt, dass die Ostdeutschen im vereinigten Deutschland faktisch Menschen zweiter Klasse sind:
„Es gibt unter den 200 deutschen Botschaftern und den 500 Generälen nicht einen einzigen Ostdeutschen. Von 84 Universitäten und Hochschulen in Deutschland wird nicht eine von Ostdeutschen geleitet. In den ostdeutschen Landeshauptstädten kommen 90 Prozent aller Staatssekretäre, Abteilungsleiter, Hauptabteilungsleiter aus dem Westen, fast 100 Prozent sind es in Brandenburg. Nicht ein einziger Ostdeutscher ist in den Alt-Bundesländern Staatssekretär, Hauptabteilungsleiter, Minister. Wir haben fünf Oberlandesgerichte, die mit Altbundesdeutschen besetzt sind. Das ist verfassungswidrig. Sogar die Nazis, die sich bei uns im Osten breitmachen, kommen aus dem Westen. Gauland in Potsdam, Höcke in Thüringen. Alles Leute, die im Westen nichts geworden sind.“
Ich lebe in Russland und mir fällt auf, dass in den russischen Medien über das Schicksal der Ostdeutschen kaum berichtet wird. Warum? Ich vermute, die Führung Russlands und die russischen Medien schonen Deutschland. Man will Niemanden verärgern und die wichtigen Wirtschaftsbeziehungen nicht stören.
Die Frage nach dem Schicksal der Ostdeutschen würde auch zwangsläufig die Frage aufwerfen, welche sozialen Folgen die System-Transformation in Russland bis heute hat. Es entstand eine Schicht superreicher Russen, die auf oft nicht-legalem Wege zu einem Riesenvermögen kamen. Obwohl Putin die Wirtschaftsentwicklung in den 2000er Jahren in stabile Bahnen gelenkt hat, gibt es in Russland bis heute keine entwickelte Mittelschicht. Zwanzig Millionen Russen – 13 Prozent der Bevölkerung – leben heute an der Armutsgrenze. Der Einkommenssteuersatz für alle Russen – egal ob Milliardär oder Bauarbeiter – liegt bei 13 Prozent und der Kreml macht keine Anstalten, daran etwas zu ändern. Die Forderung der KPRF und anderer Linker nach einer progressiven Einkommenssteuer verhallt im Kreml.
Natürlich kann man sich über die deutsche Einheit freuen. Für die Russen ist es die natürlichste Sache der Welt, dass sich die Deutschen vereinigt haben. Selbst jetzt, wo die Bundesregierung und die deutschen „Leitmedien“ gegen Russland Attacken führen, gibt es in Russland keine antideutsche Stimmung.
Als Kind guckte ich in den flackernden Kerzenschein und stellte mir vor, in welch dunklem Land die „Brüder und Schwestern“ in der DDR leben. 60 Jahre später wird – wie damals – am Bild des „dunklen Landes“ – diesmal ist es Russland – gemalt. Eine bessere Ablenkung von den Problemen in Deutschland gibt es nicht.
veröffentlicht in: Nachdenkseiten