17. July 2014

Zwischen Angst und Aufbegehren

Nach dem Massaker von Odessa verfolgt die ukrainische Staatsmacht Opfer und nicht Täter

Mit einem Flashmob meldeten sich Regierungsgegner in Odessa zurück. Vor dem ausgebrannten Gewerkschaftshaus protestierten sie gegen den Krieg in der Ostukraine.

Eine Sirene ertönte, man hörte Schüsse aus einem Maschinengewehr, Menschen in heller Sommerkleidung fielen auf den Asphalt und dann tönte aus Lautsprechern das Weinen eines Kindes. Die Szene ereignete sich am Sonntag vor dem ausgebrannten Gewerkschaftshaus von Odessa. Etwa 150 Menschen beteiligten sich an der Aktion.

Zwei Tage zuvor hatten Kritiker der Kiewer Regierung mit Plakaten »Ein Gelage während der Pest« beim Internationalen Kinofestival in der Stadt demonstriert, wurden aber von der Polizei schnell abgedrängt. Der Titel des Schauspiels von Alexander Puschkin steht redensartlich für Vergnügungen in den Zeiten der Not.

Die Stadtverwaltung wollte aber mit dem Festival Normalität demonstrieren. Für die Angehörigen der am 2. Mai beim Brand im Gewerkschaftshaus getöteten Menschen gebe es keinen Grund zu feiern, sagte mir die frühere Stewardess Irina, solange die Mörder und ihrer Auftraggeber frei herumlaufen. Sie trug das große Transparent gegen den Krieg.

Die Stimme der Opposition klingt noch schwach. Die Menschen in Odessa wagen nicht, offen über das zu reden, was am 2. Mai passierte. An diesem Tag hatten Mitglieder des extremen Rechten Sektors das Gewerkschaftshaus mit Brandsätzen angegriffen und waren dann über ihre Gegner hergefallen. Offiziell gab es im Gewerkschaftshaus 48 Tote, Oppositionelle sprechen von über 200 Todesopfern.

Doch wegen angeblicher Beteiligung an »Massenunruhen mit Todesfolge« werden nicht die Täter verfolgt. Wer vor dem Massaker im Gewerkschaftshaus in der Stadt gegen die Regierung demonstrierte, geriet in Haft oder unter Hausarrest. Das bestätigte ein UN-Bericht vom 15. Juni, nach dem wegen Beteiligung an Massenunruhen in Odessa am 2. Mai 40 Personen unter Hausarrest stehen. Weitere zehn Regierungskritiker aus Odessa sitzen seit dem 3. Mai im westukrainischen Vinnitsa in Untersuchungshaft. Vom Rechten Sektor stehen nur zwei Mitglieder unter Hausarrest. Vertreter der ukrainischen Regierung und ihrer Medien nannten das mörderische Vorgehen gegen die »Separatisten« im Gewerkschaftshaus sogar eine »Rettung« für Odessa.

Mit politischen Äußerungen sind Regierungskritiker in Odessa vorsichtig geworden. Alle drei Tage verhafte der Geheimdienst Personen, die des »Separatismus« verdächtigt werden, erzählt die 28 Jahre alte Lidia. Sie überlebte den Brand im Gewerkschaftshaus auf dessen Dach. Aus Angst vor Verhaftung will sie - wie auch andere Gesprächspartner - ihren Nachnamen nicht nennen. Viele Aktivisten und Überlebende des Brandes sowie Teilnehmer der Demonstration im Zentrum tauchten unter oder leben jetzt in anderen Städten.

veröffentlicht in: Neues Deutschland

Teilen in sozialen Netzwerken
Im Brennpunkt
Bücher
Foto