RT-Reporter Ulrich Heyden interviewte im Gebäude der KP Nepals in Kathmandu Yubras Chaulagain, Mitglied des ZK der KP Nepal, zuständig für internationale Beziehungen. Der 40 Jahre alte Politiker machte an der University Kathmandu seinen Master in Gesellschaftswissenschaften und ländliche Entwicklung. Chaulagain ist seit 20 Jahren in der KP aktiv. Während des Bürgerkrieges war er Polit-Offizier in der maoistischen Nepal Liberation Army.
Bei den Parlamentswahlen im Dezember 2017 haben die Kommunisten die meisten Stimmen bekommen. Die KP Nepals verfügt jetzt über 174 der 275 Sitze im Parlament. Was bedeutet das für Nepal?
Wenn wir über die Kommunisten von Nepal sprechen: Die haben eine sehr lange Geschichte, insbesondere was die Modernisierung des Landes betrifft. Und insbesondere was die politischen Rechte betrifft. Die Kommunistische Partei von Nepal wurde 1949 gegründet. Danach hat die Kommunistische Partei an allen Maßnahmen zur politischen Transformation des Landes teilgenommen. Die Kommunisten hatten viele Forderungen. Sie haben die Probleme des Landes gründlich analysiert. Es ist jetzt an der Zeit, alle diese Fragen bezüglich der sozialen Transformation, der Veränderung der finanziellen und wirtschaftlichen Situation der Menschen, anzugehen. Eine weitere wichtige Frage ist die Souveränität unseres Landes. Außerdem wollen wir die Abschaffung aller Formen von Diskriminierung, wie das Kasten-System, die Diskriminierung einer Klasse, die Diskriminierung einer Region und die Diskriminierung einer Geschlechtszugehörigkeit.
Ist es möglich, dass die alten Kräfte an die Macht kommen, wenn sie sehen, dass ihre Partei in der Regierung nicht ihre Versprechungen erfüllen kann?
Chaulagain: Ja, es gibt Kräfte, die versuchen, an die Macht zurückzukehren. Aber es ist sehr schwierig für sie, an die Macht zurückzukehren, denn wir haben eine Verfassung. Wir kamen durch demokratische Wahlen an die Macht. Wenn wir unsere Sache nicht gut machen, haben sie Alternativen. Aber wir versuchen unser Bestes.
Es gibt das Problem der Korruption, und vor kurzem wurde eine Frau von Polizisten vergewaltigt. Nun liegt die Verantwortung in den Händen der kommunistischen Regierung. Ist das nicht schwierig?
Ja, wir haben Korruption und verschiedene soziale Probleme. Aber die Regierung versucht ihr Bestes zu tun. Es gibt die Commission for Investigation of Abuse of Authority, eine sehr mächtige Institution, die sich auf Grundlage der Verfassung mit der Korruption beschäftigt. Der Ministerpräsident hat mehrmals erklärt, dass Korruption nicht zu dulden ist. Derzeit gibt es keine schweren Fälle von Korruption.
Was die Frage der Vergewaltigungen betrifft: Die Polizei von Nepal hat ihre Kontrollen verstärkt. Das ist nicht nur das Problem der Polizei und der Regierung. Das Problem der Vergewaltigung gibt es in der Gesellschaft schon sehr lange. Aber ich gehe davon aus, dass dieses Problem mit der Zeit geringer wird.
Die Rolle der Frau in der Gesellschaft ist nicht sehr stark, ja? Ist die Frau dem Mann untergeordnet?
Ja, geschichtlich war das so.
Das heißt, wenn eine Frau wegen einer Vergewaltigung zur Polizei geht, ist sie nicht in der besten Position? Die männlichen Polizisten werden ihr sagen: Du siehst sehr gut aus. Du bist selbst schuld, dass du vergewaltigt wurdest.
Nein, so ist es in unserem Land nicht mehr, aber so war es. Heute ist die Situation so: Wir haben eine sehr gute Verfassung, 33 Prozent der Abgeordneten im Parlament sind Frauen. Nepal hat eine Präsidentin. Auch die stellvertretende Sprecherin des Parlaments ist eine Frau.
Hat die Präsidentin zu dem aktuellen Fall der Vergewaltigung Stellung genommen?
Nein, die Präsidentin hat nicht darüber gesprochen. Aber das ist ein sehr ernstes Problem, Und die Medien, die politischen Parteien und die Regierung versuchen dieses Problem zu lösen.
Die Rolle der Kommunistischen Partei hat sich stark verändert. Sie begannen mit 1.000 Mitgliedern einen Aufstand. Der König wurde gestürzt. Und jetzt sitzt die Kommunistische Partei in der Regierung.
Die KP – insbesondere der maoistische Flügel der Kommunistischen Partei – hat immer die Fragen der einfachen Leute in den Mittelpunkt gestellt. Innerhalb von zehn Jahren unternahm die maoistische Partei viel, um die politische Situation im Land zu ändern. Während des Bürgerkrieges vor zwanzig Jahren hatten weniger als 100 Personen eine Kraft wie Millionen. Es gab eine große Auseinandersetzung zwischen uns und der Regierung. Die Maoisten wurden zur entscheidenden Kraft im Land. Die Regierung konnte gegen diese Kraft nichts ausrichten. Es begann dann ein Friedensprozess. Vor zehn Jahren wurden die Maoisten die stärkste Partei. Der Führer der Aufständischen wurde Ministerpräsident des Landes. Wir haben nun eine neue Verfassung.
Während des Bürgerkrieges entwickelte ihre Partei das Konzept der Barfuß-Ärzte. Außerdem wurden durch arme Bauern 40.000 Hektar Land besetzt. Was ist aus diesen Aktionen geworden?
Die Landbesetzungen haben wir legalisiert. Was die Barfuß-Ärzte betrifft: Wir haben an einigen Orten komplett neue Krankenhäuser gebaut. Die Ärzte werden nicht wie früher unterwegs sein, sondern sie werden im Krankenhaus arbeiten. Unsere Partei hatte in der Zeit des Aufstandes auch neue Schulen gebaut, sogenannte "neue demokratische Schulen". Diese Schulen wurden nicht geschlossen, sondern in staatliche Schulen umgewandelt. In der Bevölkerung gibt es jetzt keine Unzufriedenheit.
Aber die durchschnittlichen Monatseinkommen sind sehr niedrig und viele Eltern müssen Schulgeld bezahlen, wenn sie ihr Kind in eine Privatschule schicken, wo die Qualität des Unterrichts besser ist.
Wir wollen die Privatschulen nicht alle schließen, aber langfristig reduzieren. Stattdessen wollen wir die Situation an den öffentlichen Schulen zu verbessern.
Die Vereinigten Staaten wollten zum Ende des Bürgerkrieges 2006 keine kommunistischen Minister akzeptieren und noch nicht mal mit ihnen sprechen. Akzeptieren die Vereinigten Staaten heute die von einem Kommunisten, Khadga Oli, geführte Regierung?
Ja, sie akzeptieren das. Die kommunistische Regierung kam durch Wahlen an die Macht. Die kommunistische Regierung erkennt die weltweit gültigen Prinzipien der Demokratie an. Früher wollten die USA keine maoistischen Minister. Aber heute gibt es damit kein Problem mehr.
Wie sind die Beziehungen der Kommunistischen Partei zu den Unternehmern?
Die Regierung will eine Industrialisierung voranzutreiben, vor allem in den Bereichen Landwirtschaft, Wasserkraft und Tourismus. Nepal ist ein sehr guter Platz für die Gewinnung von Strom aus Wasserkraft. Im letzten Jahr wurden in Nepal 1.000 MW Strom produziert. Wir hoffen, dass wir in sieben Monaten fast 2.000 MW haben werden. Wir werden jeden ausländischen Investor willkommen heißen. Aber wir werden keine Bedingungen akzeptieren, die negative Folgen für die Menschen in Nepal haben.
Aus welchen Staaten erwarten sie am ehesten Investoren?
Wir haben jetzt viele Investoren aus Indien und China. Es gibt auch Investoren aus Japan und anderen ostasiatischen Ländern.
Wie ist ihre Haltung zu NGOs. Sehen sie darin ein Instrument ausländischer Staaten, die Situation in Nepal zu ihren Gunsten zu beeinflussen?
Chaulagain: Wir haben gemischte Gefühle gegenüber sogenannten NGOs. Die NGOs arbeiten gemäß den von der Regierung erlassenen Regeln. Von offizieller Seite gibt es gibt keine Beschwerden gegen die NGOs. Aber es gibt NGOs, die Widersprüche zwischen den gesellschaftlichen Gruppen schüren. Sie versuchen, Menschen dazu zu bewegen, ihre Religion zu wechseln.
Sie meinen vom Hinduismus zum Christentum zu konvertieren?
Ja, zum Beispiel.
Während des Bürgerkrieges in Nepal in den Jahren 1996 bis 2006 schrieben westliche Zeitungen, dass die Maoisten in Nepal "Terroristen" seien. Sie wollten die Staatsordnung abschaffen und töteten Menschen, um dieses Ziel zu erreichen.
Wir hatten früher zwei Kommunistische Parteien, das "Maoistische Zentrum" und die "Vereinigten Marxisten-Leninisten". Heute haben wir uns in einer Partei vereinigt. Die "Vereinigten Marxisten-Leninisten" nahmen an dem Aufstand 1996 nicht teil. Aber wir haben heute ein gemeinsames Verständnis davon, dass das, was wir in der Vergangenheit gemacht haben, unser größtes Gut ist. Denn das war die Ursache dafür, dass die Gesellschaft und die Politik verändert wurden. Wir sind Kommunisten, und wir wollen in Nepal den Sozialismus verwirklichen. Nach der neuen Verfassung ist Nepal ein sozialistisches Land. Und vor allem die großen Parteien in Nepal, die Kommunistische Partei und die Nepalesische Kongresspartei, sind sozialistische Parteien. Sie haben Berührungspunkte. Wir als Kommunisten wollen einen starken Staat, der den Menschen soziale Sicherheit gibt.
Während des Bürgerkrieges starben 12.000 Menschen und 5.000 Menschen sind verschwunden. Gab es keinen anderen Weg, die Gesellschaft zu ändern?
In der damaligen Zeit gab es keinen anderen Weg. Nach der alten Verfassung hätte selbst eine Partei mit einer Zweidrittel-Mehrheit im Parlament nichts bewirken können. Sie hätte die Verfassung nicht ändern und auch den König gar nicht absetzen können. Die maoistische Partei war ab dem Jahr 2000 die drittstärkste Partei im Land. Wenn es keine maoistische Partei gegeben hätte, die Waffen in die Hand genommen hat, hätte es die politischen Veränderungen nicht gegeben.
Machte ihre Partei Fehler? Wurde Unschuldige erschossen, wurde zwangsweise Geld von Leuten für den Aufstand eingetrieben?
Wir haben die Verantwortung übernommen. Und unsere Partei hat in vielen Fällen öffentlich erklärt, dass auch Fehler gemacht wurden, die den Prinzipien unserer Partei widersprachen.
Hat die andere Seite auch Fehler gemacht?
Die andere Seite, also der König, hat einen Fehler nach dem anderen gemacht. Deshalb ist seine Macht auch zusammengebrochen. Und jetzt sind wir an der Macht.
Sie waren in der Europäischen Union. Wie waren ihre Eindrücke von den Linken in Europa?
Ich habe einige Länder in Europa besucht: Deutschland, Belgien, Frankreich, Spanien, Italien, Portugal und die Schweiz. Bei unseren Gesprächen haben die Partei-Führer in Europa wie Kommunisten gesprochen. In den Partei-Programmen und in Partei-Büros sah ich aber keinen einzigen Hinweis auf Kommunismus. Ich fragte die Genossen in Europa, "Was hat das zu bedeuten?" Sie antworteten mir, nach den Zusammenbrüchen der Sowjetunion und der sozialistischen Regierungen in Osteuropa habe es für die noch verbliebenen Kommunisten große Probleme gegeben. Für uns hier in Nepal gab es diese Probleme nicht. In Nepal gibt es keine einzige politische Auseinandersetzung, an der die Kommunisten nicht teilnehmen.
Die Menschen in westlichen Ländern verstehen nicht, warum ihre Partei Stalin für einen hervorragenden Politiker hält. Stalin ist doch für das Gulag-System und die Deportation vieler Menschen in der Sowjetunion verantwortlich. Vor Beginn des Zweiten Weltkrieges ließ er sogar sowjetische Offiziere töten.
Für uns war Stalin vor allem ein Kämpfer. Aber er hat als Partei- und Staatsführer auch viele Fehler gemacht. Aber er hat wichtige Taten für die ganze Welt vollbracht. Er hatte eine wichtige Rolle beim Sieg über die Nazis gespielt. Er war jemand, der die Sowjetunion stark gemacht hat. Wir sagen es so: Stalin machte zu 30 Prozent Fehler. Aber zu 70 Prozent war seine Rolle positiv.
Was sagen sie zu Behauptungen, ihre Partei sei ein Instrument der Volksrepublik China?
Das ist eine völlig falsche Auffassung. Wir sind national orientiert. Wir standen und stehen auf unseren eigenen Füßen. Es gibt keinerlei Einflussnahme auf unsere Partei, weder von Indien noch von China. Aber wir haben gute Beziehungen zur Kommunistischen Partei Chinas. Wir besuchen China häufig, aber sogar noch häufiger besuchen wir Indien (er lacht).
Welche Rolle wird Nepal im Rahmen des chinesischen Projekts einer neuen Seidenstraße spielen? Wenn sie sich an dem Projekt beteiligen, wird das von Indien kritisiert werden?
Vor einem Jahr hat unsere Regierung ein offizielles Dokument unterzeichnet, dass Nepal sich an dem Projekt der Seidenstraße beteiligen wird. Nepal hat festgestellt, dass dieses Projekt für unser Land von großem Nutzen sein kann. Nepal grenzt im Norden an China, im Süden, Osten und Westen aber an Indien. Unser Land war immer von Indien abhängig. Ein Großteil der Menschen in unserem Land träumt davon, dass Nepal mit Indien und China verbunden sein möge. Bisher haben wir nur ein paar wenige Eisenbahn-Kilometer nach Indien, aber keinerlei Eisenbahnverbindung mit China. Das hängt mit der Eigenart der Landschaft an der Grenze zu China zusammen. Wir streben trilaterale Entwicklungsprojekte an, unter Beteiligung von Nepal, Indien und China.
Vielen Dank für das Gespräch!
Hintergrund – Die wichtigsten Daten der jüngeren Geschichte Nepals:
1996 beginnt ein von den Maoisten initiierter Bürgerkrieg gegen den König und das Kasten-System.
Mai 2002 Das Parlament wird aufgelöst.
Oktober 2002 Eine neue Übergangsregierung wird ernannt. Die großen Parteien – die Sozialdemokraten Nepali Congress Party, die Kommunistische Partei Vereinigte Marxisten-Leninisten und Teile der royalistischen Rastriya Prajatantra Party – lehnen eine Mitarbeit in der neuen Regierung ab, da die demokratische Legitimation fehlt.
Januar 2004 Der Außenminister der USA, Colin Powell, besucht Nepal und verspricht der Regierung Unterstützung im Kampf "gegen den Terrorismus".
Februar 2005 König Gyanendra entlässt die Regierung und verhängt den Notstand, um die Macht der Maoisten zu brechen.
April 2006 Alle sieben im aufgelösten Parlament vertretenen Parteien rufen zum Generalstreik auf, der von weiten Teilen der Bevölkerung unterstützt wird. Die Maoisten kontrollieren zu diesem Zeitpunkt 80 Prozent des Landes. Kurze Zeit darauf gibt König Gyanendra in einer Fernsehansprache bekannt, dass er die Exekutivgewalt in die Hände des Volkes legen werde. Der Generalstreik wird beendet.
April 2008 Die Maoisten werden bei den Wahlen zur verfassungsgebenden Versammlung stärkste Partei.
Mai 2008 Die verfassungsgebende Versammlung beschließt in ihrer konstituierenden Sitzung die Entmachtung des Königs und ruft die Republik aus.
September 2015 Die neue Verfassung von Nepal wird verabschiedet.
April 2015 80 Kilometer nordwestlich der Hauptstadt Kathmandu ereignet sich ein Erdbeben. Insgesamt sterben mehr als 8.600 Menschen.
Ulrich Heyden
veröffentlicht von RT deutsch