30. December 2024

Russland ist nicht anti-amerikanisch (Kommentar)

Das russische Kulturleben geht weiter, so als ob es weder Krieg noch Sanktionen gibt. Gestern sah ich im Moskauer „Haus der Musik“ den Film „City lights/„Lichter einer Großstadt“ von Charles Chaplin.

Die Musik zu diesem Stummfilm aus dem Jahr 1931 wurde vom Nationalen Philharmonischen Orchester Russlands unter Leitung von Wladimir Spiwakow live gespielt.

Der Film zeigt verschiedene Episoden aus dem Alltag eines Tagelöhners, der von Chaplin gespielt wird. Das Leben des Tagelöhners ist voller Mitgefühl. Er verliebt sich in eine blinde Blumenverkäuferin und er rettet einem Millionär, der Selbstmord machen will, das Leben.

Menschliche Gefühle durchbrechen Klassenschranken. Der Millionär und der Tagelöhner werden Freunde. Wie von Geisterhand verschwinden soziale Nöte. Der Millionär bezahlt die Augenoperation für das blinde Mädchen.

Zu Sowjetzeiten hatte Chaplin einen guten Stand in Russland, denn er galt als Anti-Kapitalist. „Lichter der Großstadt“ erinnert daran, dass ohne Wohltätigkeit keine Gesellschaft funktioniert. In Russland ist die Wohltätigkeit in den letzten zwanzig Jahren zum wichtigen Teil des Lebens geworden.

Dass jetzt, wo US-Raketen auf russisches Territorium fliegen, der Amerikaner Chaplin in Russland erneut zu Ehren kommt, zeigt, dass Russland eben kein anti-amerikanisches, sondern nur ein anti-Biden-Land ist.

In den letzten 30 Jahren wurde sehr viel Amerikanisches in den russischen Alltag übernommen. Die Ideologie des risikofreudigen Unternehmers und des Konsumenten, der über seine Bedürfnisse „aufgeklärt“ werden muss, Management-Methoden, Marketing, Werbung, politische Technologie, Computertechnologie bis hin zu Mode und Film.

Die politische Führung in Russland – die nicht müde wird, die Bedeutung der „russischen Werte“ zu betonen - hat nach meinem Eindruck nicht vor, die bisher übernommenen amerikanischen Technologien und kulturellen Trends auszumerzen. Das wäre auch kaum möglich. Denn sie haben sich in der Gesellschaft festgesetzt. Offenbar nimmt man an, dass die amerikanischen Technologien und kulturellen Trends mit den „russischen Werten“ kompatibel sind.

Der Dirigent Spiwakow demonstrierte während des Konzertes übrigens einen "russischen Wert", den ich sehr schätze, die Fähigkeit zur Improvisation. Als der Film, wegen einer technischen Panne, mehrere Male stockte, ließ er das Orchester fast unmerklich neu ansetzen. Niemand murrte.

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