Sieben Monate im Jahr herrscht Frost, im kurzen Sommer kommen dann die Mücken
Foto: Ulrich Heyden
Wie leben die Menschen in der Region Jakutien, wo die Arbeiter der Firma Alrosa im Nordosten Sibiriens Diamanten aus dem Permafrostboden holen? Mit einem Anteil von 26 Prozent an der Förderung weltweit ist Alrosa das größte Unternehmen dieser Art überhaupt. Der Trust fördert mit seinen etwa 34.500 Mitarbeitern Diamanten außer in Jakutien auch im Raum Archangelsk. Die Aktien des Unternehmens befinden sich zu 67 Prozent in staatlicher Hand, wozu passt, dass der Präsident von Alrosa Sergej Sergejewitsch Iwanow heißt und der Sohn des ehemaligen Verteidigungsministers Sergej Borisowitsch Iwanow ist. Ein Alrosa-Standort ist der Ort Aichal mit drei großen Diamantenminen im Umfeld. „Wir fühlen uns hier wie auf einer Insel“, sagt der Sport- und Kulturbeauftragte von Aichal. Viele Arbeiter, die in den Gruben beschäftigt sind, hätten eine Wohnung „auf dem Festland“, erzählt er. Mit „Festland“ sind wärmere Regionen in Zentralrussland gemeint.
Von der Gemeinde Aichal mit ihren 13.000 Einwohnern bis zur nächsten Stadt sind es gut 500 Kilometer. Auf Schotterpisten fährt man durch menschenleere Taiga, ohne dass Zeichen von Zivilisation ins Auge fielen. Es wachsen verkrüppelte Kiefern, so weit das Auge reicht. „Im Sommer muss man sich hier vor Mücken schützen“, meint der Fahrer des Jeeps, mit dem ich unterwegs bin, der zugleich anerkennt, dass die Firma Alrosa einiges getan habe, damit die Menschen diese Einöde ertragen. Am Ortsrand von Aichal findet sich ein Skihang mit Lift. Dazu gibt es Sportsäle, eine Eisbahn, ein Schwimmbad und einen bestens ausgestatteten Kindergarten mit einer freundlich-bunten Einrichtung, die von der landschaftlichen Monotonie abzulenken vermag. Dennoch verlassen die meisten Absolventen der höheren Schule den Ort, um eine weiterführende Ausbildung „auf dem Festland“ zu machen. Die Eltern haben vorgesorgt, indem sie dort eine Wohnung gekauft oder eben alte Behausungen nicht aufgegeben haben wie Ilena, in Aichal die Pressereferentin von Alrosa, 40 Jahre alt. Sie stammt aus Rostow am Don im südlichen, europäischen Teil Russlands. Ihre Mutter lebt noch in dieser Stadt, während der Vater 2001 nach Aichal übersiedelte. Ihm folgte Ilena drei Jahre später. Russland sei das Land, in dem sie immer leben wolle, sagt sie, „aber nicht auf Dauer in dieser die Sinne betäubenden Taiga“.
Verena, die 30-jährige Chefin des Kulturhauses von Aichal, kommt aus Nordkasachstan und erzählt, dass sie das Schicksal an den Polarkreis verschlagen habe. Nachdem sie bei einem Autounfall verletzt worden war, ließ ihr Mann sie sitzen. „Da wollte ich nur noch ans Ende der Welt.“ Wo sie prompt Karriere machte. Verena leitet als Choreografin mehrere Tanzgruppen und organisiert zum Jahresende große Bälle, die der Vorstand des Diamanten-Unternehmens in der tausend Kilometer entfernten Stadt Mirni veranstaltet. An diesem Abend höre ich zwei Chöre, die gerade im Kulturhaus proben und ungewöhnliche Klänge produzieren. Junge Jakuten und Russen imitieren mit Mundorgeln und Obertongesang die Geräusche der Taiga. Ein zweiter Chor singt vierstimmig ein getragenes Volkslied über den Amur, einen Fluss in Ostsibirien. Der Chorleiter wirkt mit seinen langen Haaren wie vorübergehend aus einer Großstadt angereist. Und tatsächlich, der Mann kommt aus dem nördlich von Moskau gelegenen Jaroslawl.
Der Ort Aichal ist entstanden, weil sowjetische Geologen Ende 1959 in dieser menschenleeren Gegend auf Kimberlit-Gestein stießen, erkaltete Lava, die auch Diamanten enthalten kann. Bis in die 1970er Jahre hinein gab es in Aichal nur Blockhäuser, bis damit begonnen wurde, für die Arbeiter Plattenbauten zu errichten. Heute ist Aichal eines der industriellen Zentren Russlands, mit modernen Wohnhäusern in diversen Farben, die sieben Monate im Jahr auf gefrorenem Untergrund stehen. Im Sommer taut der Boden einen halben Meter auf, wodurch Aichal noch abgelegener ist als im Winter. Mit dem Wagen dringt man dann nur noch bis zum Flughafen in Polarnoje durch, die Pisten sind verschlammt, und Aichal ist nicht an das Netz der Fernstraßen angeschlossen.
Muldenkipper vor einer Reparaturwerkstatt
Foto: Ulrich Heyden
Die Sonne steht an einem wolkenlosen Himmel, als ich mit dem Jeep auf den Weg zur Jubilejny-Mine bin, dem größten Tagebau von Aichal. Im Dezember werden hier Temperaturen von bis zu 45 Grad minus gemessen, doch sei die Kälte trocken und dadurch erträglich, wird mir berichtet. Tonnenschwere, sechs Meter hohe, gelbe Muldenkipper der Marke Belaz rumpeln an unserem Fahrzeug vorbei. Diese Transporter sind 24 Stunden am Tag und sieben Tage in der Woche pausenlos im Einsatz, jeweils zwölf Stunden von einem Fahrer gesteuert, der danach Anspruch auf zwei arbeitsfreie Tage hat. Ein Kipper steht nur, sollte der Fahrer eine Pause machen. Im Winter würden die Motoren nie abgestellt, es sei zu schwierig, sie bei Kälte wieder zu starten. Wird das versucht, muss in der Nähe eine elektrisch betriebene Wärmequelle vorhanden sein. „Strom ist bei uns billiger als Diesel“, sagt mir der Chefingenieur aus der Werkstatt für diese monströsen Vehikel, für deren Reparatur strenge Sicherheitsbestimmungen gelten. Unachtsam liegen gelassene Kabel oder Werkzeuge können bei den riesigen Bauteilen, mit denen die Männer zu tun haben, zur Katastrophe führen. Helme sind die Norm wie ein Alkoholverbot.
Die Kipper, gebaut in Weißrussland, bringen wie Riesenameisen tonnenschwere Gesteinsbrocken aus der Grube des Tagebaus Jubilejny über kurvenreiche Straßen zur Verarbeitung in die „Fabrik Nr. 4“, eine riesige Anlage aus rostigem Metall und dunklen Schlünden. In diese schwarzen Löcher wird die Gesteinslast gekippt, die mit einem erschütternden Krachen ins Erdinnere zurückzufallen scheint.
Doch es ist anders: In der „Fabrik Nr. 4“ wird das Geröll in riesigen, sich drehenden Trommeln zerkleinert und in Becken gewaschen. Dann spüren Separatoren die Diamanten mithilfe von Röntgenstrahlen auf, bevor diese dann durch Druckluft aus dem Gestein herausgeschossen werden. In der letzten Phase holen Arbeiterinnen die Ausbeute per Hand aus dem Feinschutt. In der Regel kommen auf eine Tonne Geröll 0,9 Karat Diamanten. Vor acht Jahren fand man bei der Aufbereitung des Materials an dieser Stelle einen fünf Zentimeter großen Diamanten, der auf einen Wert von 1,5 Millionen Dollar taxiert wurde.
Wir halten vor einem Schlagbaum. Der Fahrer springt aus dem Jeep und öffnet den Kofferraum. Eine Kontrolleurin schaut mit strengem Blick, ob sie irgendetwas Verdächtiges sieht, etwa einen Gesteinsbrocken, in dem sich Diamanten befinden können. Die Frau wendet sich schweigend ab, die Fahrt kann weitergehen. Was passiert, wenn man bei dieser Kontrolle Gestein findet, frage ich den Fahrer. „Es ist nicht erlaubt, also machen wir es nicht. Wenn man dich erwischt, gibt es große Unannehmlichkeiten.“
Endlich sind wir am Tagebau, der Blick über die Grube Jubilejny ist atemberaubend bei einem Durchmesser von zweieinhalb Kilometern. Mit Spreng- und Bohrarbeiten wurde ein Kegel fast 500 Meter tief in die Erde getrieben, an dessen Rand sich eine spiralförmige Schotterstraße befindet, auf der die Muldenkipper an die Abbaustellen fahren und vom Grubenrand her wie kleine Spielzeugautos anmuten. Nur ein paar Meter von der Peripherie des Tagebaus entfernt befindet sich in einem Container die Leitzentrale, die für eine reibungslose Beladung der Muldenkipper sorgt. Sie veranlasst, dass Fahrtrouten umgelegt werden, wenn irgendwo gebohrt oder gesprengt wird. Im Sommer müssen die Straßen mit Wasser besprengt werden, damit die Filter der Motoren nicht zu schnell verstopfen. Über Funk und Bildschirme halten die Männer in der Schaltwarte die Verbindung zu den Fahrern der Muldenkipper und den Bergleuten, die mit ihren Schaufelbaggern die Fahrzeuge innerhalb von Minuten mit Geröll beladen. In der Zentrale wird mir erklärt, dass die Arbeit im unteren Teil des Tagebaus im August für einige Tage eingestellt werden musste. Die Abgase von Kippern und Baggern in der Grube hätten den Maximalwert überschritten, der zum Pausieren zwang. Später sagt mir Sergej Lapygin, der Leiter des Fuhrparks, dass dieses Problem immer dann auftrete, wenn es wärmer werde. Früher habe man Propeller aufgestellt, einen Hubschrauber fliegen lassen und stärkere Abgasfilter eingesetzt, alles ohne Erfolg. Die Kipperfahrer könnten deshalb an kritischen Tagen, wenn ein Grenzwert fast erreicht sei, nur mit Atemmasken in den Tagebau. Hätten die Fahrgeräte Gasmotoren, wäre eine drastische Verminderung der Abgase möglich, ist sich Lapygin sicher. Der Einsatz solcher Motoren sei eigentlich möglich, denn Aichal verfüge über eine eigene Gasversorgung. Auch habe man überlegt, direkt neben dem Tagebau Jubilejny eine Anlage zur Produktion von Flüssiggas aufzustellen, doch lohne sich eine solche Investition nicht mehr, weil die Vorräte in der Grube aller Voraussicht nach bis 2026 zu Ende gingen. Und für den Transport von Flüssiggas per Tanklastzug gebe es keine ausgereifte technische Lösung.
Die beiden Männer in der Leitzentrale sind guter Stimmung. Sie würden schon seit drei Jahrzehnten in Aichal leben. Das schönste Hobby, bei dem man am besten entspannen und die Abgeschiedenheit vergessen könne, sei die Jagd in der Taiga. Und die Ehefrauen? Die seien im Winter gern mit Langlaufskiern unterwegs, außerdem würden im Sommer Beeren und Pilze gesammelt, freilich müsse man sich ständig gegen die Angriffe von Mückenschwärmen schützen. Ich erfahre von den beiden noch, dass sie eigentlich schon Rentner seien, aber wegen einer Pension von umgerechnet 330 Euro weiterarbeiten müssten. Sie hätten schon mit 50 Jahren in den Ruhestand wechseln können, weil sie in einer besonders kalten und abgelegenen Region leben. Wie sich dieser Bonus ändert, nachdem das Rentenalter heraufgesetzt wurde, wüssten sie noch nicht. Für die Kipperfahrer Michail und Jewgeni stellen sich die Einkommensverhältnisse günstiger dar, bei vielen Schichten im Monat können sie umgerechnet bis zu 1.800 Euro verdienen, für Russland beachtlich. Michail und Jewgeni können es sich leisten, einmal im Jahr nach China, Thailand oder auf den Balkan zu fliegen. Sobald man in Rente sei und die finanzielle Situation es zulasse, wolle man Aichal verlassen, klagt Fuhrparkleiter Lapygin. Zum Glück kämen immer wieder neue, junge Arbeitskräfte. „Guter Lohn lockt.“
Zurück in Moskau will ich vom Pressesprecher der Alrosa-Zentrale wissen, ob sein Trust westliche Sanktionen fürchtet. Die Antwort lautet, das Risiko sei gering: „Das hätte katastrophale Auswirkungen auf den weltweiten Handel mit Diamanten.“ Im April setzte Alrosa Corona-bedingt nur Diamanten für 15,6 Millionen Dollar ab, im August 2020 stieg der Verkauf wieder auf 217 Millionen Dollar. Insgesamt verzeichnete das Unternehmen in den ersten acht Monaten des Jahres bei Diamanten und Rohmaterial einen Umsatz von 1,2 Milliarden Dollar. Über Privataktionäre bei Alrosa und darüber, wo sie ihre Gewinne eventuell investieren, ist wenig bekannt.
Ulrich Heyden
veröffentlicht in: der Freitag