Angezählter Putin
Zwölf Jahre befanden sich die Kreml-Partei „Einiges Russland“ und Wladimir Putin im Aufwärtstrend. Nach der Wahl gibt es in der Regierungspartei lange Gesichter.
Sie ist zwar mit 49,5 Prozent immer noch stärkste Partei. Doch der Absturz von 64 Prozent auf 49,5 Prozent erschüttert das russische Machtgefüge mehr, als die nackten Zahlen zeigen.
„Einiges Russland“ hat seit seiner Gründung 2001 faktisch alle wichtigen Posten im Land mit seinen Leuten besetzt. Es gibt kaum einen Gouverneur und kaum einen Leiter eines staatlichen Unternehmens, der nicht der Kreml-Partei angehört.
Tatsache ist jedoch, dass Putins Popularität mit 61 Prozent immer noch deutlich über der Popularität von „Einiges Russland“ liegt. Und der Ministerpräsident wird seine Eigenständigkeit bis zur Präsidentschaftswahl im März durch die schon länger geplante Erneuerung der Regierung hervorheben. Der Premier wird vermutlich einige im Volk unbeliebte Minister und korrupte Spitzenbeamte entlassen. So kann sich Putin beim Volk als „guter Zar“ präsentieren.
Doch ob diese Reparatur den Abwärtstrend für Putin und seine Partei aufhalten kann ist ungewiss. Wie eine böse Vorausahnung wirkten die Pfiffe, die Putin sich bei einer Sportveranstaltung in Moskau anhören musste. Denn der Spielraum für Beihilfen für Unternehmen und Sozialeinrichtungen wird durch die Finanzkrise und das sinkende Wachstum in Europa enger. Ein sinkender Ölpreis könnte alle Wahlversprechen ganz zunichtemachen.
Trotz der geringeren Einkünfte aus dem Geschäft mit Öl und Gas hat der Kreml den Menschen große Versprechungen gemacht. Insgesamt 1,1 Billionen Euro will die russische Regierung in den nächsten neun Jahren unter anderem für Gesundheit, Arme und Sport investieren. Doch woher soll das Geld kommen? Wird Putin nach den Wahlen seine Ankündigung wahrmachen und die Reichen stärker besteuern?
Die Statistiken zeigen, dass das russische Wirtschaftswunder nicht krisenfest ist. Im ersten Quartal dieses Jahres stieg die Zahl der Armen um 2,3 Millionen Menschen auf 22,9 Millionen. Das heißt: 16 Prozent der Russen leben heute unterhalb des Existenzminimums von umgerechnet 154 Euro im Monat. Doch man würde Russland nur durch westliche Augen betrachten, wenn man folgert, dass wirtschaftliche Probleme automatisch zu sozialen Aufständen führen. Wie die letzten 20 Jahre zeigen, haben die Russen viel Erfahrung mit Krisen. Seit der Finanzkrise von 2008 dominiert in den Kleinstädten der Naturaltausch und die Nachbarschaftshilfe.
Tatsache ist aber auch, dass die anschwellende Protestbewegung in den großen Städten, die vor allem von der Mittelschicht und der Jugend getragen wird, viel vom Glanz der Macht des Kremls nimmt und damit auf das ganze Land ausstrahlt. Für Putin, der die Kritik an Wahlfälschungen und unfairem Wahlkampf gerne auf vom Ausland bezahlte Organisationen abschiebt, bedeutet das Entstehen der neuen Protestbewegung eine ungewohnte Herausforderung, gegen die er bisher kein überzeugendes Mittel in der Hand hat.
Der Westen sollte die Entwicklung in Russland aufmerksam verfolgen, sich aber hüten, Russland Ratschläge zu geben. Jede Belehrung wird vom Kreml als Einmischung abgekanzelt. Stattdessen sollte Europa seine Kontakte in Russland vertiefen und auch über eine Lockerung der Visa-Politik nachdenken. Außerdem sollte der Westen seine Kenntnisse über die russische Opposition vertiefen. Die Protestbewegung ist mehr als die bekannten Liberalen, wie Ex-Schachweltmeister Garri Kasparow. Zu den Oppositionellen gehören auch Umweltschützer, Sozial-Initiativen, Linke, Blogger und junge Leute, die erst jetzt nach den Wahlfälschungen den Weg in die Politik finden.
veröffentlicht in: Südkurier