Nach dem Islam in Kasachstan gefragt, antwortet Salim Aschat, der Imam des Gotteshauses, „unser Land geht den Weg von Toleranz und Eintracht“. Frauen etwa für Untreue zu bestrafen, das sei in Kasachstan nicht üblich. „Wir sind ein weltlicher Staat und gehen den goldenen Mittelweg.“
Mit seinem relativ großen russischen Bevölkerungsanteil unterscheidet sich Kasachstan von anderen vormaligen Sowjetrepubliken in Zentralasien. Blutige Exzesse zwischen den Nationalitäten hat es selbst in den turbulenten Jahren des Umbruchs nach 1990/91 nie gegeben, was auch Präsident Nasarbajew zu verdanken ist, der das Land seit 20 Jahren autoritär regiert, aber bei jeder Gelegenheit auch über Koexistenz zwischen Völkern und Religionen predigt.
In der Gemüse-Abteilung des großen „Almak“-Einkaufszentrums treffe ich auf einen Mann mit rundem Käppchen auf dem Kopf, ein paar Hosen, die nur bis übers Knie reichen, und einem langen blonden Bart. Er sei Russe und von Beruf Tischler, erklärt er, fühle sich als Salafist und sei damit ein Anhänger des „reinen Islam“. Während wir reden schaut die Frau an seiner Seite, die einen langen schwarzen Mantel trägt, zu Boden. Ihr Gesicht ist nicht verdeckt, Verschleierung sei in Kasachstan verboten, sagt der Tischler. Von islamistischen Zirkeln oder Webseiten wisse er nichts, allerdings säßen viele Salafisten im Gefängnis, sagt er mit viel sagendem Lächeln.
Später erfahre ich, dass es Anfang Juli im Aqtöbe-Gebiet eine staatliche Säuberungsaktion gegen Salafisten gegeben haben soll, die zuvor offenbar mehrere Polizisten getötet hatten. Ongar Omirbek, Sprecher der moslemischen Geistlichkeit von Kasachstan, teilte aus diesem Anlass mit, bei den Salafisten handle es sich um eine „gefährliche religiöse Strömung“ – sie sei durch „das Wirken von Missionaren aus arabischen Ländern“ entstanden.
Der Baiterek-Turm mit seinem „goldenen Ei“ ist einer der wenigen zeitgenössischen Bauten, die kasachische Geschichte reflektieren – ansonsten ist die Hinwendung zu einem westlichen Baustil unverkennbar. Der Turm steht in der Mitte des Hauptboulevards, der durch zwei weitere bedeutende Bauwerke begrenzt wird – einem ebenfalls von Norman Foster entworfenen riesigen Zelt über einem Einkaufszentrum auf der einen Seite und dem mit Säulen dekorierten Palast von Präsident Nasarbajew auf der anderen. Der Dreiklang Zelt – Turm – Palast symbolisiert, wofür Kasachstan im 21. Jahrhundert steht: den Willen zur Modernität, das Bekenntnis zur Tradition, die Achtung präsidialer Macht.
Warum gibt es für die Reißbrett-Stadt Astana kaum kasachische Motive und Bauten, frage ich den Stadtplaner Amanzhol Chikanaev. Junge kasachische Architekten hätten beim Aufbau der neuen Hauptstadt viel gelernt, weicht der grauhaarige Baumeister, der einst in Moskau studierte, höflich aus. Es werde gewiss die Zeit kommen, in der Stadtviertel ganz dem traditionell-kasachischen Stil gewidmet seien.
War es eine waghalsige Entscheidung, im Jahr 1994, mitten in der tiefsten Wirtschaftskrise, die Hauptstadt von Almaty im Süden in die windige Steppe des Nordens zu verlegen? Damals verließen Russen und Kasachstandeutsche zu Hunderttausenden das Land, das auszubluten drohte. In dieser Situation war Nasarbajew mit seinem Schachzug, die Hauptstadt zu wechseln, auf mehrere Effekte aus – er wollte damit einen politischen Neuanfang symbolisieren und separatistische Tendenzen im Norden dämpfen. Finanziell konnte man sich den Abschied von Almaty im öl- und gasreichen Kasachstan durchaus leisten. Gerüchte besagen, auch Kuwait, Katar und Saudi-Arabien hätten sich seinerzeit mit Investitionen engagiert. Weshalb – darüber lässt sich nur spekulieren. Kasachstan verfügt wegen seiner natürlichen Ressourcen mit Abstand über die stärkste Volkswirtschaft im postsowjetischen Zentralasien. Kein Kasache muss nach Moskau oder Sankt Petersburg ausweichen, um dort auf einer Baustelle Geld zu verdienen.
Aber Nursultan Nasarbajew reichen Wohlfahrt und Prosperität noch lange nicht, er sieht in Astana eine internationale Konferenz-Metropole, die es mit Paris oder Genf aufnehmen kann. So rief er 2003 und 2006 Vertreter von Islam, Christentum, Buddhismus, Hinduismus und anderen Glaubensrichtungen zum „Kongress der Weltreligionen“ in seine Hauptstadt. Im Frühsommer 2011 tagte hier das 7. Internationale Islamische Wirtschaftsforum. Ein Kongress-Palast für derartige Anlässe ist die gleichfalls von Norman Foster entworfene Pyramide unweit des Präsidentenpalast und so hoch wie ein 25-stöckiges Haus. Das Gebäude aus blauem Glas war im Mai Schauplatz für die Jahrestagung der Europäischen Bank für Wiederaufbau und Entwicklung.
Schächten für den Export
Nach den Exkursionen durch Astana möchte ich unbedingt noch raus in die Steppe. In einem alten Mercedes geht es im Höllentempo auf einer schmalen Fernstraße Richtung Westen. Rechts und links nichts als unendliche grüne Weite. Es gibt keine Zäune, keine Wälle gegen den Wind, keine Strommasten.Im Dorf Sabyndy wurde die Fleischfabrik mit dem Namen Bakara erst im Vorjahr in Betrieb genommen und gehört zu den kasachischen Unternehmen, um die sich der Staat besonders kümmert, weil sie den Weg in eine industrielle Zukunft weisen. Die Regierung will weg vom Image des reinen Rohstofflieferanten. Geschlachtet wird bis auf weiteres nach islamischem Ritus. „Wir wollen unser Fleisch in die islamischen Länder Asiens exportieren – da müssen wir so und dürfen nicht anders schlachten“, meint Kuanysch Nurkijanow, der junge Direktor. Später sehe selber die halbautomatische Box, in denen gerade Kälber die letzten Augenblicke ihres Lebens verbringen. Bevor der Metzger in einem Zug die Kehle des Tieres durchschneidet, spricht er auf Arabisch die Worte Im Namen des großen Allah. Das Tier verliert das Bewusstsein und blutet in wenigen Minuten aus. Als der Direktor meinen erstaunten Blick bemerkt, meint er: „Einen Hammel oder ein Rind schlachten, das kann in Kasachstan jeder Mann“.
Als ich auf der Rücktour nach Astana wieder in dem alten Mercedes sitze, gibt es noch eine Überraschung. Astana ist am schnurgeraden Horizont überhaupt nicht zu sehen. Doch je weiter wir nach Osten fahren, desto mehr tauchen die Wolkenkratzer wieder auf, zunächst noch winzig, dann gravitätisch und monumental. Schließlich hat die Stadt uns wieder, mit ihrem Verkehrsgewühl, den Minaretten und aufregend gestalteten Fassaden, die sich dem Himmel entgegen strecken, als sei das ganz selbstverständlich. Hintergrund
Ulrich Heyden berichtet seit Jahren regelmäßig für den Freitag aus Russland und den postsowjetischen Staaten