Der Verstoßene
Andrei Babitsky wurde während des Tschetschenien-Krieges von deutschen Medien wegen seiner mutigen Reportagen mit Lob überschüttet. Doch seit der Journalist die Vereinigung der Krim mit Russland begrüßte und ihm daraufhin von seinem Arbeitgeber – dem US-Sender Radio Liberty – gekündigt wurde, tun deutsche Medien so, als würden sie Babitsky nicht mehr kennen. Hier erzählt der Kriegsreporter rückblickend, was er im Tschetschenien-Krieg erlebt hat und wie er heute zur russischen und zur westlichen Politik steht.
Wenn sich jemand mit Separatismus auskennt, dann ist das der russische Journalist Andrej Babitsky. Ich traf den 1964 geborenen Kriegsreporter im Juli dieses Jahres in Donezk, der Hauptstadt der international nicht anerkannten Volksrepublik Donezk.
Mit Babitsky persönlich zu sprechen, das hatte ich mir schon lange vorgenommen. Im Februar 2000 wären wir uns fast in der tschetschenischen Hauptstadt Grosny über den Weg gelaufen. Babitsky gehörte damals zu den bekanntesten Tschetschenien-Reportern.
Von westlichen Medien wurde er wegen seiner kritischen Berichte über die russische Kriegsführung in Tschetschenien mit Lob überhäuft. Doch 2014 wagte der Journalist Widerspruch gegen den westlichen Mainstream. Er rechtfertigte die Vereinigung der Krim mit Russland. Prompt folgte die Kündigung durch seinen Arbeitgeber Radio Liberty. Babitsky siedelte von Prag nach Donezk über und berichtet seitdem für russische Internet-Portale (1) über die „Volksrepublik Donezk“.
Radikaler Islamismus im Kaukasus wurde verschwiegen
Nach Grosny zu fahren war in den 1990er Jahren ein Muss für Russland-Korrespondenten, denn in Tschetschenien entschied sich auch das Schicksal Russlands. Wird das riesige Land in verschiedene Gebiete zerfallen, oder wird es gelingen, den Zerfallsprozess, der schon in der zweiten Hälfte der 1980er Jahre – also noch zu Sowjetzeiten – begann, zu stoppen?
Neben dem menschlichen Leid über das die Reporter berichteten, war diese strategische Frage das zweite wichtige Thema, das in den Berichten immer mitschwang. Schon damals wurde deutlich, dass der Westen gegenüber dem radikalen Islamismus, der sich zwischen 1996 und 1999 in Tschetschenien massiv entwickelte, beide Augen verschloss. Dabei mehrten sich ab 1998 die Anzeichen, dass radikale Wahhabiten aus arabischen Ländern nach Tschetschenien gingen um von dort aus ein kaukasisches Kalifat aufzubauen. Für Russland, in dem Millionen Muslime wohnen, wurde der radikale Islamismus zur realen Gefahr.
Die deutschen Medien berichteten über den Tschetschenien-Reporter Babitsky, der gute Kontakte zu den radikalen Tschetschenen hatte und diese interviewte, wie über einen Helden. Wladimir Putin hatte Babitsky als „Verräter“ bezeichnet. Nachdem der Journalist von russischen Sicherheitskräften im Januar 2000 gefangen genommen und im Februar gegen drei von einer tschetschenischen Kampfgruppe festgehaltene russische Soldaten ausgetauscht worden war, brachte der Spiegel ein großes Interview mit Babitzky. Russland stand an der Anklagemauer. Die westlichen Medien gefielen sich in ihrer Rolle als Lehrmeister in Sachen Pressefreiheit.
Leichenbergung in zerbombten Häusern
Die Arbeitsbedingungen für Journalisten waren im Tschetschenienkrieg äußerst schwierig. Ich versuchte damals von beiden Seiten zu berichten, machte Reportagen über tschetschenische Zivilisten, die mit den Aufständischen sympathisierten, berichtete im Februar 2000 aber auch über die Wiederaufbauarbeiten des russischen Notstandsministeriums in Tschetschenien.
Als ich Grosny im Februar 2000 besuchte, lag die tschetschenische Hauptstadt in Trümmern. Nichts funktionierte mehr. Es gab keinen Strom, keine Geschäfte. Die islamistischen tschetschenischen Kämpfer waren abgezogen und formierten sich in den Wäldern zu neuen Einheiten.
Für meine Reise nach Grosny hatte ich eine Kriegspause genutzt. Nach schweren Kämpfen zwischen russischen Truppen und islamistischen Tschetschenen hatte Wladimir Putin am 6. Februar 2000 erklärt, Grosny sei befreit. Ich flog in den Nordkaukasus. In der Stadt Mosdok sprang ich auf einen Lastwagen des russischen Katastrophen-Ministeriums (MTschS) auf, der auf dem Weg nach Grosny war.
Ich erinnere mich, wie im Zentrum der Stadt tschetschenische und russische Zivilisten in abgetragener Kleidung vor einer Essensausgabe standen. Wochenlang hatten sie in Kellern gelebt. Ich kam mit einem Mädchen ins Gespräch. Eine Tante, die das Mädchen begleitete, erzählte mir, die Eltern des Mädchens seien verschwunden. Ich überlegte einen Augenblick, ob ich das Mädchen aus dieser Trümmerwüste nach Moskau mitnehmen soll. Doch die spontane Idee schien mir nicht ausführbar.
Im Stadtzentrum von Grosny, im zentralen Straßenbahn-Depot der Stadt, hatte das russische Katastrophen-Ministerium ein Zeltlager aufgeschlagen. Man bot uns Journalisten an, dort zu übernachten. Nachts lagen wir auf einfachen Feldbetten. Es war höllisch kalt. Der kleine Kohle-Ofen schaffte es nicht, das ganze Zelt zu wärmen. Die ganze Wärme stieg nach oben. Warm war es nur direkt unter dem Zeltdach.
Tagsüber begleitete ich die Helfer des russischen Katastrophen-Ministeriums durch die zerbombte Stadt. Die Helfer hatten auch die Aufgabe, Tote aufzuspüren, die seit Tagen oder sogar Wochen verschüttet waren oder von Granatsplittern getroffen in ihren Wohnungen lagen. Die Toten wurden in einfache schwarze Plastiksäcke gepackt und zur Beerdigung auf einen muslimischen Friedhof transportiert.
Russland hatte Tschetschenien zurückerobert. Der Zerfall des Landes wurde gestoppt. Der Preis war hoch. Viele Zivilisten und auch viele russische Soldaten starben.
Warum scheiterte die tschetschenische Unabhängigkeitsbewegung?
Als wir uns im Juli 2018 das erste Mal in Donezk persönlich begegneten, war ich gespannt zu hören, wie Babitsky heute über den Tschetschenienkrieg denkt.Im Jahre 2000 sympathisierte der Journalist noch mit der tschetschenischen Unabhängigkeitsbewegung und er interviewte ihre Anführer, wie den Radikalen Schamil Basajew.
„Warum scheiterte die Unabhängigkeitsbewegung in Tschetschenien?“, fragte ich den bekannten Kriegsreporter.
Babitsky antwortete, der erste tschetschenische Präsident – Dschochar Dudajew – habe 1991 nicht verstanden, dass Tschetschenien weder militärisch noch politisch in der Lage ist, sich gegen das föderale Zentrum durchzusetzen.
„Dudajew verstand nicht, dass Tschetschenien nicht in der Lage ist, ein eigenes System aufzubauen. Das waren Romantiker, die glaubten, man könne auf Grundlage des tschetschenischen Gewohnheitsrechts einen neuen Staat aufbauen. Daraus wurde nichts.“
Die Aufständischen hätten die letzten Reste der sowjetischen Verwaltung demontiert. Das Ergebnis sei gewesen, dass es ein „völliges Chaos und ein Aufblühen des Bandenwesens gab“. Von 1996 bis 1999 habe Russland Tschetschenien faktisch die Möglichkeit gegeben als eigenständiger Staat zu existieren.
„Aber das führte zu noch schlimmeren Resultaten. Das Territorium fiel ins schlimmste Mittelalter zurück, Es gab Menschenhandel, Mord, Folter. Die zentrale Verwaltung funktionierte nicht mehr. Tschetschenien zerfiel in Enklaven, die von islamistischen Banden regiert wurden.“
Auf die Frage, was er tun würde, sollte ihm ein Verlag anbieten, seine Tschetschenien-Reportagen aus den 1990er Jahren zu veröffentlichen, ob er einwilligen würde, antwortete Babitsky: „Ja, das würde ich. Es waren einfache Reportagen ohne den Versuch etwas zu bewerten. Ich bin der Meinung, dass der erste Tschetschenien-Krieg eine absolut falsche Entscheidung war. Das war der Versuch von Boris Jelzin vor den Präsidentschaftswahlen mit einer militärischen Operation einen Erfolg zu präsentieren. Im Ergebnis litt eine große Zahl von Menschen.” Der zweite Tschetschenien-Krieg, fügt der Journalist hinzu, sei eine Antwort auf das Wirken islamistischer Fundamentalisten gewesen.
„Einen Großangriff auf Donezk wird es nicht geben“
Bei unserem Treffen sprachen wir auch über die Situation in der Volksrepublik Donezk. Ja, es sei möglich, dass die Ukraine einen Großangriff startet, sagt der Journalist. „Kiew macht alles Mögliche und auch Dinge, die abseits jeder Logik sind.“ Aber wenn man die Lage real betrachte, habe die Ukraine keine Ressourcen für einen großen, erfolgreichen Angriff. Sie habe nicht die militärische Überlegenheit. Kiew fürchte, dass Moskau sich einmischt. Außerdem würde so ein Angriff zu einer großen Zahl von menschlichen Opfern in Donezk führen. In Donezk lebten heute noch 80 Prozent der Menschen, die vor dem Krieg in der Stadt wohnten, also fast eine Million Menschen. Es gäbe eine Reaktion des Westens auf eine große Zahl von Opfern, die es beim Angriff auf Städte geben würde. Mir scheint, das ist auch ein Aspekt, der Kiew zurückhält.
„Deshalb glaube ich, dass es so weitergehen wird wie bisher. Es wird immer wieder Zuspitzungen und Beschuss geben. Aber einen Großangriff wird es nicht geben.“
„Die Jugend braucht eine Perspektive“
Als problematisch sieht der Journalist die Situation der Jugendlichen in der „Volksrepublik“. Die Jugendlichen, die jetzt ihre Ausbildung an Schulen und Instituten beenden, planten ihr Leben weitgehend außerhalb der Republik. Die Jugendlichen und ihre Eltern sähen nicht, welche berufliche Tätigkeit die Jugendlichen in der Volksrepublik ausüben können. Die Gehälter und Renten seien sehr niedrig. „Das könnte man aushalten, wenn klar wäre, dass die Volksrepublik in einem Jahr oder in fünf Jahren Teil der Russischen Föderation wird. Doch solch eine Sicherheit gibt es nicht.“ Wegen der Unsicherheit über den Status der Republik und dem niedrigen Wohlstand würden die aktivsten Leute, die ihr Leben verbessern wollen, nach Russland, aber auch in die Ukraine übersiedeln. Deshalb wäre es sehr wichtig, dass die neue Elite der Volksrepublik viel zielgerichteter und entschlossener eine Strategie zur Entwicklung der Republik ausarbeitet.
Wie es mit der Demokratie in der Volksrepublik aussieht, will ich von dem Journalisten wissen. „Mit der Demokratie gibt es hier wirklich Probleme. Es gibt eine Ausgangssperre, das ist eine Einschränkung der Rechte. Aber es gibt Krieg hier. Deshalb braucht man eine stärkere Kontrolle. Denn es kommen Untergrund-Störer-Gruppen hierher.“
Die Medien seien sehr schwach. Sie würden vom Staat kontrolliert, könnten sich aber mehr herausnehmen. Es mangele jedoch an journalistischen Profis. Für die Menschenrechte und die Sicherheit werde auf hohem Niveau gesorgt.
„2014 konnte noch jeder in eines der provisorischen Gefängnisse kommen und es konnten Leute verschwinden. Das gibt es jetzt nicht mehr. Es arbeiten jetzt Gerichte und Staatsanwälte. Die gesetzliche Basis reicht noch nicht aus. Und es gibt noch Fälle, wo jemand verschwindet oder jemandem sein Geschäft abgepresst wird. Aber diese völlige Willkür, die 2014 herrschte, gibt es nicht mehr. Das Niveau der Demokratie ist nicht sehr hoch, aber es gibt sie.“
„Der Donbass zeigt für Russland eine Perspektive“
Erstaunt war ich, als Babitsky über die Bedeutung des Donbass für Russland sprach.
„Der Donbass ist ein Gebiet, wo sich ein Gedanke entwickelt, der für ganz Russland wichtig ist. Mit diesem Gedanken wird Russland leben. Hier bildet sich das Verständnis, wofür ein russischer Mensch sterben kann. Er kann und muss sterben für die russische Sprache, für seinen Glauben, für seine Kultur, für die Gemeinschaft der russischen Menschen. Das erste Mal in der post-sowjetischen Geschichte steht Russland an einer gefährlichen Grenze.“
In der post-sowjetischen Geschichte habe man die Vorstellung gehabt, „man müsse die westlichen Standards des Konsums und vielleicht die westlichen Standards der Produktion erreichen. Wir hatten die Vorstellung, dass man das ganze westliche Wertesystem, das politische und das kulturelle System, übernehmen muss. Aber es klappte nicht. Das Werte-System ist nicht vollkommen. Und die Standards wurden bei uns nicht verwirklicht. Im Ergebnis haben wir das Verständnis von unserer eigenen Identität und des eigenen Wertesystems verloren und haben nichts Neues dazugewonnen.“
Der Donbass zeige Perspektiven für das Kommende.
„Der Sinn des menschlichen Lebens ist, dass der Mensch versteht, wofür er das Leben geben kann, wozu er ein so hohes Opfer bringen kann. Und ich denke, dieses Verständnis haben wir zum großen Teil hier im Donbass gewonnen.“
„Der Westen kopiert die Sowjetunion“
Die Situation in der westlichen Welt sieht Babitsky kritisch. „Der heutige Westen erinnert mich an die Sowjetunion. Denn im Westen gibt es jetzt eine äußert harte politische Einstellung gegenüber Russland. Russland wird als Quelle des Bösen bezeichnet. Niemand will sich mit der Realität beschäftigen. Das einmal aufgebaute Muster wird auf alle Ereignisse aufgedrückt und nach diesem Muster werden alle positiven und negativen Bewertungen getroffen.
Man kann sagen, dass die Ideologie im Westen das sowjetische Modell kopiert. Das sowjetische Modell beurteilte den Westen nach einer Schablone und zeigte nur die dunkle Seite der Realität. Und Niemand in der Sowjetunion versuchte herauszubekommen, was im Westen wirklich vor sich geht.“ So wie Russland sich von der sowjetischen Sichtweise auf die Welt verabschiedet habe, „so wird auch der Westen sich davon verabschieden. Denn sich lange in völliger Dunkelheit aufzuhalten, ist nicht sehr angenehm.“
Die von der liberalen Opposition in Moskau beklagte übermäßige Macht-Vertikale in Russland und der übermäßige Einfluss der russisch-orthodoxen Kirche, sieht der Journalist nicht.
„Ich sehe in Russland im Gegenteil regionale Besonderheiten, regionale Eigenarten, regionale Rechte. Was das Internet betrifft: Gehen sie ins Internet und wenn sie wollen, finden sie dort 1.000 Flüche über Putin und Beschuldigungen, dass er ein blutiger Tyrann ist. Diejenigen, die das sagen, verstehen nicht, dass wenn er ein Tyrann wäre, dass man dann versuchen würde, sie ruhig zu stellen und ihnen den Mund zu stopfen. Aber sie können in Ruhe – ohne ihre Moskauer Wohnungen oder Cafés zu verlassen – Putin kritisieren.“
„Gegen Russland hat sich die ganze Welt zusammengeschlossen“
Dass es eine starke Unterstützung für Wladimir Putin gibt, sei eine Tatsache.
„Meiner Meinung nach ist das gut, weil Russland heute in einer schwierigen Situation ist. Gegen Russland hat sich die ganze Welt zusammengeschlossen. Russland lebt unter dem Regime der Sanktionen.“
Von den post-sowjetischen Staaten sei Russland das am meisten demokratische Land.
„In Russland kann sich die Opposition am meisten herausnehmen im Vergleich zu den anderen ehemaligen sowjetischen Staaten. In Russland gibt es eine reale Föderalisierung. Die oppositionellen Medien in Russland haben einen fast unbegrenzten Raum, in dem sie arbeiten können. Ihre Arbeit wird nur durch die Strafgesetze begrenzt.“
Was die Menschenrechte betreffe, in der Ukraine und in den baltischen Staaten werde die russische Sprache unterdrückt. In Russland gäbe es nichts dergleichen. Es gäbe keine Einschränkungen für die Nationalitäten und ethnischen Gruppen. Er habe nichts von Beschwerden wegen der Unterdrückung einer nationalen Minderheit gehört.
Nicht Alles in Russland sei ideal.
„Nur eine Partei ist an der Macht. Das Parlament ist nicht ideal. Es unterstützt die herrschende Ordnung und das herrschende Regime vollständig. Die KPRF gehört zu den drei Stützen des Systems. Aber wir haben gesehen, welche Unterstützung die außerparlamentarische Opposition bei den Wahlen bekommt. Wieviel hat Ksenia Sobtschak bei den Präsidentschaftswahlen bekommen? 1,5 Prozent der Stimmen. Die Opposition ist soweit in den Machtorganen, wie es ihrem Einfluss in der Bevölkerung entspricht.“
Zum Schluss frage ich den Journalisten, ob er einen Traum hat, wo er in den nächsten zwanzig Jahren leben wolle. „In Russland”, lautet die Antwort. Also nicht in Donezk, frage ich. „Warum. Das hier ist Russland für mich. Absolut. Dass das hier nicht Teil des russischen Staates ist, ist für mich kein Problem. Das hier ist ein Teil Russlands, welcher außerhalb der Grenzen Russlands lebt.“
(1) Seit seiner Kündigung durch „Radio Liberty“ schreibt Babitsky für die russischen Internetportale Ukraina.ru (https://ukraina.ru/authors/andrey/), vsglyad.ru (https://vz.ru/opinions/expert/3716/) und life.ru (https://life.ru/author/2247)
Ulrich Heyden
veröffentlicht in: Rubikon