6. March 2025

Deutschland drosselt Hilfe für Überlebende der Blockade von Leningrad (Nachdenkseiten)

Voronchikhina Ekaterina / Shutterstock
Foto: Voronchikhina Ekaterina / Shutterstock

06. März 2025 um 14:00 Ein Artikel von Ulrich Heyden

Die Bundesregierung hat in einer Antwort auf eine Kleine Anfrage der Bundestagsgruppe BSW erklärt, dass der russische Angriffskrieg in der Ukraine „dazu geführt hat“, dass die von der Bundesregierung 2019 versprochene finanzielle Unterstützung für Überlebende der Blockade von Leningrad „langsamer als zuvor geplant voranschreitet“. Bei der 900 Tage dauernden Blockade starben über eine Million Menschen an Hunger und Krankheiten. 48.000 Überlebende der Blockade leben heute noch in St. Petersburg. Von Ulrich Heyden.

In der Antwort der Bundesregierung auf die Kleine Anfrage des BSW vom 20. Januar heißt es in der Drucksache 20/15032:

Die Corona-Pandemie sowie die Folgen des russischen Angriffskrieges gegen die Ukraine haben dazu geführt, dass die Umsetzung langsamer als zuvor geplant voranschreitet.“

Was ist mit „den Folgen“ genau gemeint? Sind unter „Folgen“ von der Bundesregierung verfügte Sanktionen gegen russische Banken gemeint? Warum hat man das Krankenhaus in St. Petersburg für Blockade-Überlebende, dem die Bundesregierung 2019 zwölf Millionen Euro versprochen hat, dann nicht von diesen Sanktionen ausgenommen, so wie die deutschen Rentner, die in Russland leben und ihre Rente auf ein russisches Konto beziehen?

Die stockenden Zahlungen wurden geheimgehalten

Warum war man nicht so ehrlich und hat nicht schon zum 80. Jahrestag der Befreiung von Leningrad am 27. Januar 2024 bekanntgegeben, dass man die 2019 versprochene Hilfe in Höhe von 12 Millionen Euro für das Krankenhaus in St. Petersburg, in dem Überlebende der Blockade behandelt werden, nur in begrenztem Umfang leistet? Stattdessen hat man so getan, als ob es bei der Hilfe für die Überlebenden der Blockade keinerlei Verzögerungen gibt.

Noch am 27. Januar 2024 – zum 80. Jubiläum der Befreiung der Stadt Leningrad – lobte das Auswärtige Amt die deutschen Hilfszahlungen. Kein Wort von irgendwelchen Verzögerungen bei zugesagten Geldern:

Als Geste der Versöhnung und des Erinnerns fördert die Bundesregierung zum einen die Modernisierung eines Krankenhauses in St. Petersburg. In diesem Krankenhaus werden zahlreiche noch lebende Blockadeopfer behandelt. Zum anderen fördert die Bundesregierung in St. Petersburg Begegnungen mit Blockadeopfern. Dabei sollen junge Menschen mit den Überlebenden in den Austausch kommen, die Erinnerung an die Blockade soll gestärkt und weitergegeben werden.“

Offenbar wurde von der Bundesregierung von Anfang an einkalkuliert, dass Menschen, denen Deutschland Leid zugefügt hat – wie die Blockade-Opfer – wegen „des Krieges in der Ukraine“ nochmal leiden müssen. Aber man versuchte, diese Tatsache durch schön klingende öffentliche Erklärungen zu verdecken.

Ja, der deutsche Botschafter Alexander Graf Lambsdorff legte zum Gedenken an die Blockade-Opfer in St. Petersburg 2024 und 2025 einen Kranz und Blumen nieder. Aber in den deutschen Medien war der 80. Jahrestag der Befreiung von Leningrad 2024 nur ein Randthema. Der 81. Jahrestag 2025 war dann gar kein Thema mehr.

Dass die Bundesregierung 2025 keine Vertreter zu Blockade-Gedenkveranstaltungen in St. Petersburg entsandt hat, begründet die Bundesregierung in ihrer Antwort auf die Kleine Anfrage der BSW-Gruppe wie folgt: Russland habe „Deutschland im März 2022 auf die Liste der ´unfreundlichen Staaten´ gesetzt. Seither laden staatliche russische Stellen das deutsche Generalkonsulat in St. Petersburg nicht mehr zu offiziellen Gedenkveranstaltungen zu den Jahrestagen der Leningrader Blockade ein.“

Das Versprechen der Bundesregierung von 2019

2019 hatte die Bundesregierung anlässlich des 75. Jahrestags der Befreiung von Leningrad noch einen Anlauf unternommen, um den Überlebenden der Blockade Hilfe aus Deutschland zukommen zu lassen. Der damalige Außenminister Heiko Maas vereinbarte mit seinem russischen Kollegen Sergej Lawrow die Zahlung von 12 Millionen Euro für das erwähnte Krankenhaus, welches sich um Überlebende der Blockade kümmert, sowie – unter dem Projektnamen „Humanitäre Geste“ – die Einrichtung eines Begegnungszentrums, das Treffen zwischen deutschen Jugendlichen und Überlebenden der Blockade in St. Petersburg organisieren sollte.

Als ich mich im Herbst letzten Jahres mit einer Überlebenden der Blockade von Leningrad traf und recherchierte, inwieweit die von Berlin angekündigte Hilfe an die Überlebenden der Blockade geleistet wurde, war ich erstaunt, dass diese Hilfe ins Stocken geraten war.

In einem Beitrag für die NachDenkSeiten im November 2024 habe ich dann mit Fakten dokumentiert „Wie eine Siebenjährige die Blockade von Leningrad überlebte und die deutsche Regierung das Thema abschütteln will“ sowie, dass die 2019 von der Bundesregierung angekündigte Leistung von 12 Millionen Euro für das Krankenhaus in St. Petersburg trotz einer Verpflichtungserklärung der Bundesregierung nicht mehr als zur Hälfte gezahlt wurde. Das russische Außenministerium hatte mir gegenüber sogar erklärt, es seien nur „etwas mehr als zwei Millionen Euro“ gezahlt worden.

Außerdem hatte ich ermittelt, dass ein 2019 von der Bundesregierung initiiertes Begegnungszentrum in St. Petersburg zwar von der Bundesregierung finanziert wurde, es aber seit 2022 zu fast keinen Begegnungen mehr zwischen deutschen Jugendlichen und den Überlebenden der Blockade von Leningrad kam.

Die Antwort der Bundesregierung auf die BSW-Anfrage

Die BSW-Gruppe nutzte meine Recherchen dann für eine Kleine Anfrage, die am 6. Februar 2025 bei der Bundesregierung eingereicht und am 20. Februar beantwortet wurde.

In der Antwort auf die Kleine Anfrage schreibt die Bundesregierung, „die rechtliche Bewertung der Bundesregierung, dass die Blockade von Leningrad durch die deutschen Besatzungstruppen und ihre verbündeten Hilfstruppen in den Jahren 1941 bis 1944 ein Kriegsverbrechen darstellte, gilt unverändert fort“.

Auf die Frage, wieviel der 2019 von der Bundesregierung versprochenen Modernisierungs-Gelder in Höhe von 12 Millionen Euro an das St. Petersburger Krankenhaus überwiesen wurden, nennt die Bundesregierung den Betrag 4,6 Millionen Euro.

Für das 2019 gestartete Begegnungszentrum in St. Petersburg wurden nach Aussage der Bundesregierung seit 2019 1,4 Millionen Euro zur Verfügung gestellt.

2019 und 2020 seien 111 Personen und 2021 und 2022 37 Personen unter 24 Jahren im Rahmen des Projekts „Humanitäre Geste“ nach St. Petersburg gereist, um sich dort mit Überlebenden der Blockade zu treffen. Das macht zusammen 148 Jugendliche im Zeitraum 2019 bis 2022. Eine sehr bescheidene Zahl.

In den Jahren 2023 und 2024 fuhren dann gar keine deutschen Jugendlichen mehr im Rahmen des Projekts „Humanitäre Geste“ nach Russland. „Präsenzteilnahmen waren pandemiebedingt und wegen des russischen Angriffskrieges gegen die Ukraine zunehmend schwieriger, so dass auf Hybrid- und Onlineformate umgestiegen wurde“, schreibt die Bundesregierung in ihrer Antwort.

Auf die Frage, ob die Reisen der Jugendlichen nach Russland medial begleitet wurden, schreibt die Bundesregierung, dass die Reisen „vor Beginn des russischen Angriffskrieges“ auf Social-Media-Kanälen begleitet wurden. „Zudem gab es Veröffentlichungen in russischen Zeitungen wie im ´Kommersant´ und der ´Moskauer Deutsche Zeitung´. In Deutschland berichtete unter anderem die Zeitung ´Neues Deutschland´.“ Seit Februar 2022 gab es keine Medienbegleitung des Projekts mehr, offenbar, weil es gar nichts mehr zu begleiten gab.

Finnische Kriegsverbrechen vor Leningrad

Andrej Hunko und die Gruppe des BSW hatten in ihrer Kleinen Anfrage außerdem um Auskunft gebeten, „inwieweit die Bundesregierung an einer gemeinsamen Aufarbeitung der im Rahmen der Leningrad-Blockade begangenen Kriegsverbrechen mit der finnischen Regierung interessiert“ ist. Finnland, das 2023 Mitglied der NATO wurde, hatte sich mit der Wehrmacht und der spanischen „Blauen Division“ an der Einkesselung von Leningrad beteiligt.

Dies sei „nicht Gegenstand der bilateralen Zusammenarbeit mit der finnischen Regierung“ gewesen, antwortete die Bundesregierung. Zu vertraulichen Gesprächen mit anderen Staaten äußere sich die Bundesregierung „grundsätzlich nicht”.

Einmalzahlungen für jüdische Überlebende der Blockade

Auf die Frage von Andrej Hunko und der BSW-Gruppe, ob es zutreffe, dass die Bundesregierung ihre direkten humanitären Zahlungen ausschließlich an jüdische Überlebende der Blockade leiste, verwies die Bundesregierung auf ihre Antwort auf eine Kleine Anfrage der Partei Die LINKE vom März 2017.

Damals hatte die Bundesregierung geantwortet, jüdische Überlebende der Blockade von Leningrad „konnten von der Jewish Claims Conference seit 2008 eine Einmalzahlung von 2.556 Euro erhalten”.

Nichtjüdische Überlebende der Blockade könnten – so schreibt die Bundesregierung – keine Entschädigungen aus Deutschland erwarten, da sie „nicht rassisch motivierter Verfolgung“ ausgesetzt gewesen seien, „sondern allgemeinen Kriegshandlungen“, die nicht „unter das allgemeine Völkerrecht fallen.“

Millionen Sowjetsoldaten verhungerten auf freiem Feld

Diese Einordnung der Verbrechen von deutschen Soldaten gegen die Zivilbevölkerung in der Sowjetunion hält nach Meinung des Autors dieser Zeilen einer näheren Prüfung nicht stand. Ja, dass die Juden aus rassischen Gründen von den Nazis verfolgt wurden, ist in Deutschland heute eine anerkannte Tatsache.

Die Tatsache, dass auf sowjetischem Territorium und in Kriegsgefangenenlagern sogenannte „rassisch Minderwertige“ – wie Russen, „Zigeuner“ und Juden – als sogenannte „Untermenschen“ ausgehungert und erschossen wurden, ist in Deutschland aber noch nicht hinreichend bekannt.

Dabei liegen die Zahlen spätestens seit den 1990er-Jahren vor. Von fünf Millionen sowjetischen Kriegsgefangenen verhungerten 3,3 Millionen, weil sie schlecht oder gar nicht ernährt wurden und hinter Stacheldraht auf freiem Feld dahinvegetieren mussten[1]. Kriegsgefangene aus westlichen Staaten wurden dagegen meist in Baracken oder festen Gebäuden untergebracht. Die Kriegsgefangenen aus Frankreich und England galten nicht als „Untermenschen“.

Der deutsche „Generalplan Ost“ von 1942 sah vor, Millionen Russen aus dem europäischen Teil der Sowjetunion gen Osten umzusiedeln, um für deutsche Siedler „Lebensraum“ zu schaffen. Bei diesen Umsiedlungsplänen zu Gunsten deutscher Kolonisten wurde der Hungertod von Millionen Russen von vorneherein einkalkuliert.

Russische Staatsanwälte und Gerichte haben in den letzten Jahren deutsche Kriegsverbrechen gegen die sowjetische Zivilbevölkerung untersucht. Es wurden mehrere Gerichtsurteile gefällt, in denen Völkermord festgestellt wurde (siehe dazu mein Referat beim Webinar von FriedenLinks: „Russische Sichtweisen zum 80. Jahrestag der Befreiung“).

Das russische Außenministerium hatte im März 2024 eine Verbalnote an das Auswärtige Amt übermittelt, mit der Forderung, die Belagerung von Leningrad als Völkermord anzuerkennen. Dazu schreibt die Bundesregierung in ihrer Antwort an die BSW-Gruppe, die Bundesregierung habe in einer Antwortnote erklärt, dass die Blockade von Leningrad „ein Kriegsverbrechen darstellt und diese rechtliche Begründung unverändert fort gilt“.

Das Anerkenntnis von Völkermord würde die von russischer Seite vorgetragene Reparationsforderung im Fall der Blockade von Leningrad bestätigen.

 


[«1] Christian Streit: Keine Kameraden. Die Wehrmacht und die sowjetischen Kriegsgefangenen 1941–1945. Verlag J.H.W. Dietz. Nachf., Bonn 1997, S. 10.

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