Als sich am Sonntag die dritte Etage im Einkaufszentrum „Winterkirsche“ mit Rauch füllte und die Kinobesucher nicht flüchten konnten, weil die Türen verschlossen waren, schrieben viele Kinder per Handy Abschiedsworte an ihre Eltern. Aleksandr Ananew hat bei dem Brand seine drei Töchter verloren. Sie saßen im Kino des Einkaufszentrums und guckten einen Zeichentrickfilm. „Papa, mir scheint wir haben einen Brand. Wir kommen nicht raus!“, schrie eine seiner Töchter ins Telefon. Der Vater versuchte seine Familie zu retten, aber der schwarze Rauch war schon zu dicht. Er schaffte es nicht bis zum Kino. Nach Gerüchten verschlossen sich die Türen automatisch, nachdem die Stromversorgung ausgefallen war.
Am Mittwoch gab es in Russland einen landesweiten Trauertag für die Toten von Kemerowo. Im größten Land der Erde hat es schon viele Katastrophen gegeben. Doch wegen der vielen Kinder unter den Toten war die Betroffenheit in Russland diesmal besonders groß.
2016 gab es 92 Tote beim Absturz eines Flugzeuges mit dem Aleksandrow-Armee-Chor. 2011 sank ein Ausflugsdampfer auf der Wolga (128 Tote). 2009 brannte eine Bar in Perm aus (156 Tote). Und trotz ständiger Aufrufe von Wladimir Putin, die Sicherheitsbestimmungen einzuhalten und sich nicht um die Bestimmungen zu drücken, reist die Kette der Unglücke nicht ab.
„Man will nicht weinen, sondern brüllen“, sagte der russische Präsident Wladimir Putin beim Treffen mit örtlichen Beamten am Dienstag in der sibirischen Stadt Kemerowo. „Und es kommen einem noch ganz andere Gedanken“, sagte Putin. Damit spielte er offenbar auf Rachegefühle an, die bei solchen Ereignissen schon mal im Innern hochkommen.
„Das ist doch hier kein Kriegsgeschehen“
Es schien, als ob sich der Kreml-Chef vor Schmerz und Wut kaum beherrschen konnte. Man hätte sich über Tränen oder einen Wutschrei nicht gewundert. Doch der Präsident sprach streng und beherrscht weiter. „Das ist doch hier kein Kriegsgeschehen. Es ist nicht zu einem plötzlichen Methangasausbruch im Schacht gekommen.“ Kemerowo ist eine Bergwerksregion, wo es häufig zu Katastrophen unter Tage kommt. „Die Menschen kamen um sich zu erholen. Kinder ... Wir sprechen von der Demografie und verlieren so viele Menschen.“ Schließlich kam der Präsident zum Hauptpunkt: Im Einkaufszentrum habe es eine „verbrecherische Schlamperei“ gegeben.
Als der Präsident die für die Untersuchung des Unglücks zuständigen Beamten befragte, stellte sich heraus, dass in dem Einkaufszentrum zahlreiche Sicherheitsbestimmungen nicht eingehalten worden waren. Das Gebäude – bis 2013 eine Süßwarenfabrik – war unter Missachtung von Vorschriften zum Einkaufszentrum mit drei Kinos und einem Bassin in der dritten Etage umgebaut worden. Der Vertreter der für die Wartung der Brandschutzanlage zuständigen Firma, Igor Polosinenko, erklärte, die Brandschutzanlage sei 15 Minuten vor Brandbeginn ausgeschaltet worden. Nach einer anderen Meldung war die Brandschutzanlage schon seit dem 19. März außer Betrieb.
Doch das war noch nicht alles: Der Feueralarm wurde vom Gebäudeschutz nicht eingeschaltet. Möglicherweise wollte sich der Sicherheitsdienst des Gebäudes wegen vieler Fehlalarme in der letzten Zeit erst selbst ein Bild vom Brandherd in der dritten Etage machen. Doch das Feuer breitete sich in Minutenschnelle aus.
Die letzte Sicherheitsüberprüfung des Gebäudes fand 2016 statt. Warum lag die letzte Prüfung so lange zurück? Das Einkaufszentrum mit seinen 27 Geschäften war von den Behörden als Kleinbetrieb eingestuft worden. Bei Kleinbetrieben werden nach einer 2015 beschlossenen Gesetzesänderung für drei Jahre keine Steuer- und Sicherheitsprüfungen mehr durchgeführt, wenn es vorher keine Beanstandungen gegeben hat. Diese Maßnahme soll kleinere Betriebe vor übermäßigen Kontrollen schützen und die Geschäftstätigkeit anregen.
Doch im Einkaufszentrum „Winterkirsche“ hatte es vor der Einstufung als „Kleinbetrieb“ zahlreiche Beanstandungen gegeben. Die Einstufung wurde nach Meinung von Kritikern durch Schmiergeldzahlungen erreicht.
Wladimir Putin legte am Ort der Katastrophe Blumen nieder und besuchte das Krankenhaus von Kemerowo, wo er mit Überlebenden des Unglücks sprach.
Zur gleichen Zeit fand vor der Gebietsverwaltung eine angeblich spontane Trauerkundgebung statt. Die staatlichen Fernsehkanäle übertrugen diese Kundgebung nicht. Auf der Kundgebung waren viele örtliche Politiker anwesend. Die Menschen waren aufgebracht.
Vize-Gouverneur Wladimir Tschernow rief ins Mikrofon: „Wenn ich damit auch nur ein bisschen zu tun habe, soll man mich zerstückeln.“ In der Menge rief jemand, der Gouverneur habe Schmiergeld angenommen. „Ich habe etwas angenommen? Kommen sie her und sagen sie ihren Namen“, antwortete der Vize-Gouverneur.
Es wurden Rufe laut, „Mörder!“ und „Wir wollen die wahre Zahl der Toten wissen!“. Zwei Kinosäle seien voller Menschen gewesen. 64 Tote, das sei gelogen. In Wirklichkeit seien 335 Menschen beim Brand gestorben.
Belege für diese Zahl gibt es nicht und sie ist auch unwahrscheinlich. Sollten es mehr als 64 Tote gewesen sein, „dann würde das über die Verwandten sofort herauskommen“, meinte der Korrespondent des „Kommersant“, Andrej Kolesnikow. „Es macht keinen Sinn so etwas zu verschweigen.“
Aleksandr Ananew, der seine drei Töchter beim Brand verlor, erzählte, er habe stundenlang keinerlei Hilfe bekommen. Kein Vertreter der örtlichen Verwaltung habe mit den Eltern der eingeschlossenen Kinder gesprochen. Erst als die Katastrophen-Helfer und Psychologen aus Moskau mit dem Flugzeug eintrafen, habe sich die Situation verbessert.
Einige Moskauer Zeitungen nahmen bei ihrer Kommentierung der Ereignisse in der sibirischen Stadt kein Blatt vor den Mund. Die Beamten in Kemerowo zeigten sich von ihrer schlimmsten Seite, schrieb Julia Kalinina, Kommentatorin von Moskowski Komsomolez. Sie seien „ohne Mitgefühl und egoistisch“. Diese Beamten weinten nicht mit den Eltern, „sie sehen nicht, dass sie irgendwo nicht genug hingeguckt und etwas zugelassen haben.“ Die Hauptsorge der Beamten sei, „wie kann man das Volk im Zaum halten. Wie kann man verhindern, dass es zu Unruhen kommt. Denn bei Unruhen verlieren sie ihre Ämter.“
Kurzschluss oder Spiel mit Feuer?
Wie der Brand genau entstand, ist immer noch nicht klar. Es gibt verschiedene Versionen. Nur so viel steht fest: Der Brand entstand in der dritten Etage, dort, wo sich Kinos und eine Spielfläche mit einem Bassin für Kinder befinden. Eben in dieser Spielfläche soll der Brand begonnen haben. Der Hauptverdacht scheint jetzt zu sein, dass es in der dritten Etage einen Kurzschluss gab. Es gab aber auch Berichte, nach denen Kinder mit Feuerzeugen hantiert haben sollen. Die Direktorin des Einkaufszentrums meinte, an dem Brand seien vermutlich „Jugendliche verschiedener Nationalität“ schuld, die in dem Einkaufszentrum schon lange für Unruhe sorgen. Belege legte sie nicht vor. Der Verweis auf diese angeblichen „Jugendlichen verschiedener Nationalitäten“ scheint dem Autor dieser Zeilen eher einVersuch, von der eigenen (Mit-)Schuld abzulenken.
Dass Wladimir Putin zum Brandort fuhr und in Begleitung von Fernsehkameras selbst Ermittlungen durchführte, indem er an öffentlichen Plätzen mit Funktionsträgern sprach und sich von Bewohnern auch erregte Fragen anhörte, ist für russische Verhältnisse nicht ungewöhnlich. Bei großen Katastrophen, bei denen die Bevölkerung direkt betroffen ist und es auch zu Protesten kommt, ist Putin oft im Einsatz, um vor Ort für eine Beruhigung der Lage zu sorgen.
Im Juni 2009 reiste der Kreml-Chef in die Kleinstadt Pikalowo. Dort hatten Anwohner wegen der Schließung von drei Fabriken eine Fernstraße blockiert. Der Kreml-Chef befahl dem Besitzer der geschlossenen Fabrik Oleg Deripaska vor laufenden Fernsehkameras, die Fabrik wieder in Betrieb zu nehmen, was dieser dann auch tat.
Der Kreml-Chef ist in diesen Momenten der Seele des Volkes ganz nah. Er teilt den Unmut der Menschen. In Kemerowo schimpfte er vor den örtlichen Beamten, „die Betriebsgenehmigungen für Einkaufszentren würden gegen Geld gekauft“. Der Kreml-Chef geht aber nicht bis zum Äußersten und befiehlt die Absetzung der örtlichen Verwaltung, wie es viele Bewohner der Stadt Kemerowo wohl begrüßen würden.
Stattdessen erklärt er, das zentrale Ermittlungskomitee aus Moskau sei mit 100 Mitarbeitern angereist. Die Tätigkeit jedes einzelnen Funktionsträgers – von der Feuerwehr, dem Gebäudeschutz, den Mietern und Eigentümern des Gebäudes und der für das Gebäude zuständigen Behörden – werde genau untersucht. Erst dann könne man ein Urteil fällen.
Mit der Fernsehkamera am Brandherd
Durch ganz Russland ging in den letzten Tagen eine Welle der Trauer. Im Internet wurden Tipps veröffentlicht, wie man sich bei einem Brand am besten verhält und die Moskauer Ausgabe der Komsomolskaja Prawda fragte besorgt: „Kann sich das in Moskau wiederholen?“
Viele Internet-User setzten eine brennende Kerze auf ihre Seite. Am Dienstag wurden in vielen Städten Russlands Stellen eingerichtet, wo Bürger Blumen und Kuscheltiere in Andenken an die verstorbenen Kinder ablegen konnten. Trauer gab es auch in der Ukraine. Auch vor den Konsulaten in Kiew und Lwow wurden Blumen niedergelegt.
Ungewöhnlich war, dass am Dienstag in einer Talk-Show beim Fernsehkanal Rossija 1 ein bekannter Moderator direkt aus Kemerow zugeschaltet wurde. Die Zuschauer konnten sehen, wie der Moderator, der sonst die Sendung in Moskau moderiert, zusammen mit seinem Kameramann durch die völlig ausgebrannten Räume des Einkaufszentrums geht. Gezeigt wurde auch eine Rolltreppe, die einzige Verbindung zwischen der dritten und zweiten Etage, über welche die Menschen in Panik zu fliehen versuchten.
Dass ein Fernseh-Team den Brandort direkt nach der Katastrophe – noch vor Abschluss der Ermittlungen - besuchen konnte, ist für russische Verhältnisse sensationell. Offenbar versuchte das staatliche Fernsehen, aufkommenden Verdächtigungen vorzubeugen, es solle etwas vertuscht werden.
Fast 300.000 Menschen hatten eine im Internet zirkulierende Erklärung unterschrieben, in der die Veröffentlichung einer „vollständigen Liste“ der Toten gefordert wurde. Denn die offizielle Zahl von mehr als 60 Toten, sei „wahrscheinlich gefälscht“. Belege für diese These wurden allerdings nicht genannt.
Dass darüber spekuliert wurde, dass es mehr Tote gab als offiziell angegeben, machte Russen aus dem patriotischen Lager wütend. In sozialen Netzwerken schrieben sie, offenbar versuchten bestimmte Kräfte eine Hysterie anzustacheln, um politische Ziele durchzusetzen.
„Schuld ist die liberale Wirtschaftspolitik“
In ganz Russland sind in den 2000er Jahren, als die Konjunktur gut lief, tausende von riesigen Einkaufszentren entstanden. Sie erfüllen faktisch die Funktion, die zu Sowjetzeiten die „Häuser der Kultur“ erfüllten. In den Einkaufszentren treffen sich die Jugendlichen. Hier kann man ins Kino gehen oder einfach nur etwas Trinken und Quatschen. Alle diese Einkaufszentren sollen nach der Tragödie von Kemerowo jetzt überprüft werden. Alle Russen wissen, dass Geschäfte und Unternehmen lästigen Überprüfungen von Feuertreppen, Feuerlöschern und freien Fluchtwegen gerne mit Schmiergeldzahlungen aus dem Weg gehen.
Für den bekannten Moskauer Wirtschaftswissenschaftler Michail Chasin hängt das Unglück von Kemerowo mit der von den Liberalen dominierten Wirtschaftspolitik in Russland zusammen. In einem vom Isborski-Experten-Klub veröffentlichten Aufsatz schrieb Chasin mit kühler Ironie, in einer liberalen Wirtschaftsordnung sei „jeder für seine Sicherheit selbst verantwortlich“. Und die Beamten seien geradezu dazu verpflichtet, „aus ihrer Tätigkeit einen finanziellen Nutzen zu ziehen“.
Der Beamte in einer liberalen Wirtschaftsordnung stehe unter einem ungeheuren Druck. Seine Vorgesetzten erwarteten von dem Beamten eine Beteiligung an den Schmiergeldern. Die von dem Beamten kontrollierten Unternehmen erwarteten, dass er zügig die Umschläge mit Geld in Empfang nimmt, anstatt den Geschäftsbetrieb durch Wartezeiten zu stören. Und die Ehefrau des Beamten frage ihren Mann, warum die Kollegen des Mannes Porsche und Jaguar fahren, während er nur mit einem Renault unterwegs ist.
Die hohe Popularitätsrate von Stalin in der russischen Bevölkerung hänge damit zusammen, dass viele Menschen wollen, dass die 1991 begonnene Privatisierung des Staatseigentums rückgängig gemacht wird, sagt Chasin. Die Menschen wollen, dass die Beamten wieder der Gesellschaft und dem Staat verpflichtet sind, nicht aber ihren persönlichen, finanziellen Interessen. Die Hoffnung auf mehr soziale Gerechtigkeit assoziierten die Menschen mit Stalin.
Der Grund für den hohen Wahlerfolg von Wladimir Putin bei den Präsidentschaftswahlen sei die Erwartung in der Bevölkerung, dass Putin sich von der Privatisierung der Staatsbetriebe und dem liberalen Wirtschaftsmodell verabschiede.
Könnte es Putin wie Milošević und Gaddafi ergehen?
Nach den Gift-Skandalen um Aleksandr Litwinenko und Sergej Skripal in England sei es „sogar für einen sehr naiven Menschen klar, dass Putin und seine engere Umgebung nicht überleben werden, wenn sie nicht Russland (gemeint ist die breite Masse der Bevölkerung, Anmerkung des Autors) auf ihrer Seite haben. Deshalb überlebten Milošević und Gaddafi nicht.“
Wenn Putin sich nicht vom liberalen Wirtschaftsmodell verabschiede, drohten Unruhen, wie es sie zu Zeiten von Gorbatschow an den Rändern der Sowjetunion gegeben habe. Damals seien diese Unruhen von Personen in Moskau gesteuert worden, „die schon lange mit den zukünftigen ‚Partnern‘ (gemeint sind die westlichen Staaten, Anmerkung des Autors) zusammenarbeiteten.“
Soviel ist sicher: Der Brand in Kemerowo wird der schon lange schwelenden Diskussion um eine Änderung der Wirtschaftspolitik in Russland neuen Auftrieb geben.
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