Ein Schweizer Regenbogen in Russland
Der Schweizer Unternehmer Jörg Duss hat sich in das Leben in Russland verliebt. Und zeigt seine Zuneigung zu Land und Leuten mit sozialem Engagement.
Von Ulrich Heyden (Text und Bild) Tarusa. – In der Küche raufen fünf Kinder. Mutter Lidia hat alle Hände voll zu tun, um die blonde Rasselbande ruhig zu halten.
Die Kleinen ziehen sich an den Ohren und schubsen einander. Und immer wieder will eins auf den Arm genommen werden. Die Rasselbande, das sind: der achtjährige Wanja, der sechsjährige Vika,Vera mit ihren vier Jahren, Ilja mit drei und Nesthäkchen Maria ist eineinhalb.
Eigentlich müsste die Stadtverwaltung von Tarusa die Familie mit einer grossen Wohnung belohnen, denn Politiker klagen, dass in Russland zu wenig Kinder geboren werden. Doch die 36-Jährige und ihr Mann müssen mit einer Einzimmerwohnung in einem Plattenbau auskommen. Trotzdem macht die Grossfamilie einen glücklichen Eindruck. Das ist durchaus nicht die Regel bei Familien in sozial schwierigen Lebenslagen. Das Geld, das Lidias Mann nach Hause bringt, ist dennoch schnell aufgebraucht. So freut sich Lidia, wenn einmal im Monat Swetlana von der schweizerischrussischen Stiftung Raduga, zu Deutsch Regenbogen, mit Nahrungsmitteln vorbeikommt.
Ganz unten angefangen
Raduga wurde 2001 vom Schreinermeister Jörg Duss gegründet. Der Luzerner kam erstmals 1997 in das romantische Städtchen Tarusa, 140 Kilometer südwestlich von Moskau. Er sollte hier für eine Firma Holzbearbeitungsmaschinen aus der Schweiz installieren und die russischen Arbeiter schulen. Ihm gefiel es so gut, dass er blieb. Hier, weitab von der westlichen Zivilisation, lernte er auch seine Frau kennen, mit der er unterdessen zwei Kinder hat.
Dabei musste Duss 1997 ganz untenanfangen. Er konnte kein Wort Russisch und quartierte sich erst mal im Wohnheim der örtlichen Berufsschule ein. Weil es kein Bett für ihn gab, musste er sich mit Schlafsack und Isomatte begnügen. Russland 1997, das war eine schwere Krisenzeit. Zu essen gab es imWohnheim nur Brot und Kartoffeln, zu trinken schwarzen Tee, erinnert sich Duss, jedenfalls bis zum Frühling. «Dann wurden auch die Kartoffeln knapp.»
«Der kommt vom Teufel»
All das hat Duss nicht abgeschreckt. Im Gegenteil. Als er erlebte, wie sich die Berufsschüler in Notsituationen gegenseitig halfen, spornte ihn das an, auch Gutes zu tun. So organisierte er für das Wohnheim, in dem damals auch viele Waisen lebten, ein Fest und dann noch eins und noch eins. Freunde und Verwandte in der Schweiz, die von seinen Erzählungen begeistert waren, steckten ihm ein paar Franken zu. Die Spendenbereitschaft brachte ihn schliesslich auf die Idee, eine Stiftung zu gründen. Nun hält Duss jedes Jahr im November in einer Turnhalle seines Heimatortes Pfeffikon im Kanton Luzern einen Vortrag über die Arbeit der Stiftung im fernen Tarusa. Das Wichtigste sei der persönliche Kontakt zu den Spendern, damit diese sähen, das Raduga mit minimalem bürokratischem Aufwand arbeitet.
Vertrauen schaffen, das fiel Duss in der Schweiz zunächst leichter als in Russland. Als der junge Mann begann, in Tarusa Lebensmittelpakete für bedürftige, ältere Menschen zu verteilen, war er vielerorts nicht willkommen. «Manche Babuschka schmiss mich einfach wieder aus der Wohnung. Damals hörte ich Sprüche wie ‘Der kommt vom Teufel’.» Dass da so ein Ausländer in der Wohnung stand, der schlecht Russisch sprach und Lebensmittel umsonst übergeben wollte, dass machte viele ältere Russen misstrauisch. Sozialstiftungen gibt es in Russland kaum und Lebensmittel für Bedürftige verteilt eigentlich nur das Sozialamt.
Inzwischen hat sich die Stiftung am Ort gut etabliert. «Die Leute vertrauen uns», erzählt ein Stiftungs-Mitarbeiter. Mit der Sozialbehörde spricht man sich ab. Dort, wo der Staat nicht genug Geld hat, springt Raduga ein. Die Stiftung hilft in allen möglichen Lebenslagen. Sie organisiert Brennholz, hilft bei den Fahrtkosten, wenn eine Jugend-Tanzgruppe zu einem Wettbewerb fahren will oder besorgt für ein behindertes Kind einen Computer. Im Dorf Wosnesenija hat man 2004 einen Kindergarten komplett modernisiert. Kernstück der Raduga-Hilfe ist aber die Lieferung von Nahrungsmitteln an sechs Schulküchen und zwei Kindergärten – gegen 15 Tonnen Lebensmittel waren es im letzten Jahren.
Und Duss hat immer wieder neue Ideen. Als er hörte, dass die Dorfschulen früher Gemüsegärten hatten, rief er einen Wettbewerb aus. Wer den besten Gemüsegarten herrichte, bekomme eine Musikanlage, versprach er. Viele Gärten wurden so wieder belebt. «Alle Projekte die wir machen, haben wir nicht erfunden, sondern das Leben hat sie uns aufgedrückt», sagt Duss.
Seit November steht in Tarusa nun das neue Stiftungshaus. Sechs festangestellte russische und Schweizer Mitarbeiter sind hier tätig. In dem einstöckigen Neubau werden die Nahrungsmittelspenden zusammengestellt, ausserdem gibt es ein Lager für gebrauchte Kleidung. Man hat grosse Pläne. So will man einen Alten-Kreis und einen Computer-Club für Jugendliche aufbauen.
«Für den komischen Schweizer»
Wenn von Stiftungen die Rede ist, dann denken viele Russen erst mal an Schwindel und Betrug. Aber wenn das Ganze von einem Schweizer gemacht wird, «dann fassen sie Vertrauen», erzählt Duss. Um auch in Russland Spender zu werben, trat er vor Kurzem in einer Sendung bei Radio Echo Moskau auf. Dort schilderte er, wie er angefangen habe, den Leuten zu helfen.
Die Reaktion der Hörer war überwältigend. Hunderte Leute riefen an und sagten, sie hätten die Sendung mit Tränen in den Augen gehört. Manche erklärten, sie schämten sich für Russland – und seien Duss dankbar. Unmittelbar nach der Sendung trudelten dann die ersten Überweisungen ein, sogar aus dem sibirischen Nowosibirsk und Omsk. Eine Frau aus St. Petersburg schickte 500 Rubel und schrieb auf die Überweisung nicht den Namen der Stiftung, sondern «für den komischen Schweizer». Das Geld kam trotzdem an.
veröffentlicht in: Die Südostschweiz