28. January 2025

„Ein Stück Menschlichkeit aus Deutschland“ – Liane Kilinc (Moskau) über humanitäre Hilfe für den Donbass (Globalbridge.ch)

Die Freiwilligen, die in der Fabrik in Sewastopol arbeiten und vom Verein Friedensbrücke unterstützt werden. (Foto Liane Kilinc)
Foto: Die Freiwilligen, die in der Fabrik in Sewastopol arbeiten und vom Verein Friedensbrücke unterstützt werden. (Foto Liane Kilinc)

27. Januar 2025Von:  in AllgemeinMedienkritikPolitikWirtschaft

(Red.) Seit zehn Jahren ist Liane Kilinc in der humanitären Hilfe für Kriegsgebiete aktiv. 2015 gründete sie in Wandlitz (Brandenburg) mit sechs weiteren Personen den Verein Friedensbrücke-Kriegsopferhilfe (www.fbko.org). Seitdem fährt sie regelmäßig in den Donbass – nach heutiger Rechtslage in die Volksrepublik Donezk –, um den Bedarf an Hilfe zu ermitteln, sich über laufende Projekte zu informieren und um Hilfe vor Ort zu organisieren. Seit August 2022 lebt Liane konstant in Moskau. 2023 wurde sie in Russland als politischer Flüchtling anerkannt. Ulrich Heyden hat in Moskau mit der Vereinsvorsitzenden und Emigrantin gesprochen. (cm)

Wie läuft jetzt die humanitäre Arbeit?

Wir haben in diesem Monat unser Zehn-Jahres-Jubiläum. Denn im Januar 2015 haben wir die erste Hilfe in den Donbass gesandt. Damals waren es sechseinhalb Tonnen. Radio Berlin-Brandenburg hat uns damals begleitet. Damals war das alles noch ganz toll. Hilfe ins Kriegsgebiet. Es war die sogenannte Winterhilfe. Den Verein gegründet haben wir dann im Juni 2015.

Ich hatte Probleme, Dich für ein Interview zu bekommen, weil Du ständig auf Reisen bist. 

Es sind nicht immer Reisen. Es gehört ja auch viel Vorbereitung dazu. Es gibt Veranstaltungen, zum Beispiel mit Universitäten. Die Hauptaufgabe aber bleibt die Donbass-Hilfe. Ich fahre jeden Monat einmal dorthin. Ich war jetzt auch in Kursk. Das ist ja „altes“ russisches Territorium. Davor war ich in Awdejewka, Donezk, Gorlowka, Jasinowataja und Mariupol. Die Transporte mit einem Lastwagen finden monatlich statt. Manchmal begleite ich sie.

Wir haben hier in Russland verschiedene Partner, mit denen wir die Transporte organisieren. Das war auch vorher so, als ich noch nicht ins Exil gehen musste. Wir hatten von Deutschland aus immer russische Partner, weil das die Arbeit erleichtert. 

Bestimmte Produkte kaufen wir immer vor Ort ein. Warum unnötig Kosten verursachen und Produkte von Deutschland in den Donbass karren?

Von „vor Ort“ heißt Rostow am Don?

Das ist unterschiedlich. Rostow ist ein zentraler Punkt. Aber wir kaufen zum Beispiel auch Obst aus Georgien. Wir kaufen auch Kleidung. Einmal kauften wir zwei Tonnen Jacken oder Kleidung, die man auf Paletten bestellen kann. Das war in den letzten zehn Jahren so. Jetzt gehen wir einfach in Donezk oder anderen Orten im Donbass auf den Markt und kaufen es dort direkt frisch und liefern alles dann sofort aus. 

Das, was gespendet wird, ist oft Ware auf Paletten. Wir hatten jetzt zum Beispiel vier Tonnen Apfelmus in Dosen von einer russischen Firma. 

Man darf die Sanktionen nicht vergessen. Am Anfang haben wir Babynahrung und Nudeln direkt aus Deutschland in den Donbass bringen können. Aber auch Nahrungsmittel, Medizin und Verbandsmaterialien kamen dann auf die Sanktionslisten.

Aber das ist doch komisch, denn man kann hier in Moskau in den Apotheken deutsche Medikamente kaufen.

Im Fall der Medikamente muss man sagen, dass da die Einfuhr von Seiten Russlands nicht gewollt war. Das Deutsche Rote Kreuz ist 2017 aus dem Donbass verbannt worden, weil Medikamente gebracht wurden, die in Russland gar nicht zugelassen waren oder weil man den Verdacht hatte, dass mit diesen Medikamenten experimentiert wird. 

Ihr habt ja einen großen Stamm von Spendern und ihr seid bekannt in Deutschland. Die Leute spenden bis heute und mit dem Geld kauft ihr dann in Russland Ware für die humanitäre Hilfe ein? 

Ich muss ein bisschen in unsere Geschichte zurückgehen. Mit dem Beginn der Spezialoperation im Februar 2022 wurde die ganze Donbass-Hilfe kriminalisiert. Das gilt für alle, die in dieser Richtung was machen. Es gibt ja noch andere Vereine und Privatinitiativen, die sich da engagieren. In den Medien und der Politik wurde die Formel „Angriffskrieg Russlands gegen die Ukraine“ verbreitet.  Wir haben uns von Anfang an gegen diese Formel gestellt. Wir haben gesagt, der Krieg läuft seit 2014. Es ist ein Stellvertreterkrieg. Die NATO ist nach Osten gerückt. Es gab den unerklärten Krieg, der von Kiew begonnen wurde. 

Ich habe ganz klar gesagt, dass dies ein Verteidigungskrieg Russlands ist. Russland muss seine Sicherheit wahren. Damit sind wir alle in den Fokus gerückt. Zumindest für unseren Verein „Friedensbrücke“ war das so.  Für Friedensbrücke war es nicht mehr möglich, Transporte aus Deutschland zu organisieren, weil es Sanktionen gab gegen Güter „mit doppelter Verwendung“. Uns hätte ein Schraubenzieher oder ein Spaten zum Verhängnis werden können, weil man uns dann hätte vorwerfen können, wir hätten gegen Sanktionen verstoßen. 

Im Januar 2023 haben wir im Vorstand des Vereins beschlossen, keine Transporte aus Deutschland mehr zu machen. Und ich denke, dass dies auch nicht wirklich ein Problem ist. Denn wenn wir ehrlich sind, ist die humanitäre Hilfe nur ein Tropfen auf den heißen Stein. Die humanitäre Hilfe ist ein Zeichen von Solidarität. Damit zeigen wir, wir sind bei euch, wir vergessen euch nicht. 

Früher haben wir auch Sachspenden angenommen, wenn solche reinkamen. Und das ist oft schwierig. Wir wissen ja, die Menschen haben verschiedene Körpergrößen. Wir hatten ziemlich viele Sachen, die gar nicht passten. Für uns waren die Transporte nie relevant, weil wir andere Konzepte haben. 

Unser Konzept war immer Hilfe vor Ort, Hilfe zur Selbsthilfe. Wir haben bis heute über 800 Projekte im Donbass umgesetzt. Zum Beispiel haben wir beim Aufbau einer Nähwerkstatt geholfen. Für die haben wir Nähmaschinen geliefert. Wir haben gesagt, wir liefern das Material, machen müsst ihr´s. Und das hat immer funktioniert. Wir haben Saatgut, Küken, Baumaterialien und Bausätze für Spielplätze geliefert, Dächer repariert, Fenster gekauft und eingesetzt, ganze Räume und Zimmer saniert, wie zum Beispiel in einer Berufsschule, einer Musikschule und in Kindergärten in Gorlovka, und vieles mehr. 

Bringt Ihr den Menschen auch ganz spezielle Dinge, die sie dringend benötigen?

Ja, es gibt gezielte Bestellungen. Zum Beispiel Medikamente. Die Renten sind nicht sehr hoch und spezielle Medikamente und Pflegehilfsmittel sind teuer. Wir haben jetzt zum Beispiel einen elektrischen Rollstuhl geliefert. Seit 2018 flattern jeden Tag solche Anfragen rein. Aber natürlich können wir nicht alle Wünsche erfüllen. 

Die staatlichen sozialen Einrichtungen schaffen nicht alles? Es gibt Arbeit für humanitäre Organisationen?

Der Grundbedarf ist aus meiner Sicht gedeckt. Es gibt Lebensmittel, Krücken und Prothesen. Aber bestimmte Sachen, die über die Grundversorgung hinaus gehen, werden vom Staat nicht finanziert. Eine ältere Frau, die hat zwar ihre Rente, aber das reicht dann für bestimmte andere Dinge nicht mehr, wie zum Beispiel für eine Heizdecke. 

Wir haben eine kleine Fabrik in Sewastopol auf der Krim aufgebaut. Die Fabrik feierte gerade ihr Zwei-Jahres-Jubiläum. In der Fabrik sind 34 ehrenamtliche Helfer tätig. Es werden Kleidung, Kerzen und haltbare Lebensmittel hergestellt. Außerdem werden die berühmten Tscheburaschkas gestrickt. Das ist eine kleine Figur mit großen Ohren aus einem sowjetischen Zeichentrickfilm. 

Die Fabrik beliefert die Regionen Donezk, Lugansk und Cherson. Die Nachfrage ist groß. Friedensbrücke stellt alle Materialien zur Herstellung zur Verfügung und übernimmt die Kosten für die Lieferungen. Weitere Orte für so ein Projekt sind in Planung.

Kannst Du Momente von Deinen letzten Reisen schildern, die Dich berührt haben? 

Ich will nicht sagen, dass man nach zehn Jahren abstumpft. Aber man sieht viele Dinge anders. Die Erlebnisse, die mich am meisten beeindruckten, gab es in den Jahren 2016, 2017 und 2018. Dann kam ja so ein bisschen die Zeit, wo man schon fast wieder an Wiederaufbau dachte, weil der Konflikt ruhiger wurde. Durch die Spezialoperation hat sich die Situation dann wieder verändert. Der ukrainische Beschuss hat am Anfang wieder stark zugenommen, vor allem auf Donezk, Gorlowka und Jasinowataja. Der Bedarf an Hilfe hat sich verändert. Viele sind – wenn sie wollten, es wird keiner gezwungen – evakuiert worden oder haben das Gebiet verlassen und sind nach Russland gegangen, einige werden auch innerhalb der Region Donbass untergebracht.

Menschen aus Gorlowka, die wir betreut haben, sind jetzt im russischen Kernland, in Kaluga, andere sind in Anapa. Zwischenzeitlich sind dann wieder viele in den Donbass zurückgegangen, die dann nach drei Tagen das Gebiet erneut verlassen haben, weil der Beschuss zu stark war. Es gibt ja Waffen mit größeren Reichweiten und auch Drohnen.

Sind die Menschen in Donezk auch von Drohnen betroffen?

Wir haben durch Beschuss drei Transporter verloren, mit denen wir auslieferten. Die Transporter werden begleitet, mit einem Fahrzeug dahinter und einem davor. In Donezk haben wir zwei Transporter verloren, als wir unter Beschuss geraten sind. Ein Vorfall ereignete sich letztes Jahr auf dem Weg zum Bahnhof. Das war eine Kamikaze-Drohne. 2023 wurde ein Fahrzeug mit Streumunition angegriffen. Das war im Kiewer Bezirk von Donezk. Wir kamen gerade aus der Volkrepublik Lugansk. Es war schon relativ spät, halb zehn. Man sagt ja, man soll nicht so spät fahren. Einmal gab es auch Tote.

Gorlowka ist zurzeit nur noch Drohnen-Angriffen ausgesetzt.  Ich bin oft in Gorlowka gewesen und ich wollte in ein, zwei Wochen wieder dorthin. Aber jetzt überlege ich mir das erste Mal, ob ich das mache oder nicht, weil das so schlimm ist dort. 

Wir mussten bei der letzten Fahrt stundenlang nach oben gucken. Wir haben uns aufgeteilt. Einer guckte rechts, einer guckte links. Man sagt immer, man muss in Deckung bleiben und sich nicht auf offenem Gelände bewegen. Wir haben ja genau die Gebiete versorgt, die so stark unter Beschuss stehen und direkt an der Frontlinie sind, wie Nikitowka und Glubokoje. 

Gorlowka – die Stadt liegt nordöstlich von Donezk – hat mich tatsächlich sehr berührt. Diese Stadt war bei meiner letzten Fahrt menschenleer. Ich war auf der Allee, die sonst immer voller Menschen ist. Ich war bei unserem Denkmal. Wir haben in Gorlowka am 7. Mai 2016 ein Denkmal für die vom ukrainischen Regime getöteten Kinder mitfinanziert. Dieses Denkmal besuche ich immer, wenn ich der Stadt bin. Ich bin also zu diesem Denkmal gegangen und ich habe kilometerweit keinen einzigen Menschen getroffen. Das war für mich ein komisches Gefühl. Wo sind die Menschen alle hin? Eine menschenleere Stadt. Das hat mich lange beschäftigt.

Viele Menschen bleiben in den Häusern. Es gibt Ausgangssperren für bestimmte Zeiten. Die Menschen versuchen ihren Alltag so gut es geht zu leben. Aber viele haben die Region verlassen. 

Das wird sich übrigens ändern, wenn die Stadt Torezk – sieben Kilometer nordwestlich von Gorlowka – befreit ist. Dann wird es keinen Beschuss auf Gorlowka mehr geben, weil die, die jetzt von dort aus schießen, dann nicht mehr da sind. 

Ich war wie gesagt auch in der Stat Awdejewka, 30 Kilometer nördlich von Donezk. Die Stadt kann nicht mehr beschossen werden. Jetzt wird sie wieder aufgebaut. Das Gebiet ist noch sehr vermint. Aber in Awdejewka hast du noch die Kontraste wie in Mariupol, auf der einen Seite die komplette Zerstörung, auf der anderen Seite der Wiederaufbau. Diese Kontraste sind beeindruckend und beklemmend. Nach Awdejewka kehren die Menschen wieder zurück, was ich für sehr wichtig halte, damit diese Gebiete wieder belebt werden. Häuser, Kultureinrichtungen und Schulen werden wieder aufgebaut. 

Liane Kilinc in Awdejewka vor zerstörten Häusern.

Triffst Du dort Menschen jeden Alters, oder nur ältere Leute?

Die dort ausharren, das sind schon meist Ältere. Oft sind es auch Frauen mit Kindern. Für die Frauen ist es schwer, in anderen Gebieten Wurzeln zu schlagen. Entweder sind die Männer gefallen, sie sind an der Front oder aus anderen Gründen nicht da. Die Frauen sind in Awdejewka in ihrer gewohnten Umgebung und haben dort ihre sozialen Kontakte. Und sie werden supergut betreut. Es ist ja jetzt schon das dritte Jahr, wo die Schulen und die Kindergärten im Donbass geschlossen sind. 

Du bist jetzt seit zweieineinhalb Jahren in Russland. Es ist ja nicht ganz einfach, hier als Deutscher in einer schwierigen Zeit anzukommen. Wie war Deine bisherige Zeit hier und wie siehst Du Zukunft in Russland für Dich?

Ich sehe es als nicht so problematisch. Durch die Donbass-Hilfe haben wir ein Riesennetzwerk. Seit 2016 unterstützen wir auch die Überlebenden von deutschen Konzentrationslagern und russische Kriegsveteranen. Nach meiner Ankunft in Moskau waren die Kriegsveteranen auch die ersten, an die ich mich gewendet habe. 

Was warf man Dir in Deutschland vor?

Im September 2022 war das Referendum im Donbass. Wir waren als Beobachter in Jasinowata. Auf dem Rückweg fuhren wir dann nach Moskau. Das war dann die Situation, wo das in Deutschland hochgekocht ist. In einem Artikel in einem deutschen Medium hat man uns „Kollaboration mit sowjetischen Veteranen“ vorgeworfen. Dann wurde in verschiedenen Richtungen gegen mich und den Verein strafrechtlich ermittelt. Inzwischen gibt es ein Urteil gegen mich wegen einem Z auf einem russischen LKW in Moskau.

Unserem Verein wurde die Gemeinnützigkeit entzogen. Wir haben dagegen geklagt. Ich Moment schwebt das Verfahren, weil es wahrscheinlich schwierig ist, für die, die uns erledigt sehen wollen. 

Als ich in Moskau politisches Asyl beantragte, war das für Russland eine ganz neue Situation. Denn wann beantragten schon mal Leute aus dem westlichen Ausland politisches Asyl? Das ist sehr lange her.  Ich habe dann später erfahren, dass das Gesetz über politisches Asyl schon dreißig Jahre alt ist, aber nie genutzt wurde, weil es Niemand in Anspruch nahm. Es war kompliziert für mich und für die russischen Behörden. Doch es ging dann recht zügig. Im Oktober 2022 stellte ich den Antrag und im Februar 2023 hatte ich den Status „politisches Asyl“. 

Zuerst war das natürlich ein Schock für alle, Familie, Beruf und alles, was an einem so dranhängt. Aber für unseren Verein konnte eigentlich nichts Besseres passieren. Ich sitze ja hier sozusagen „an der Quelle“. Jetzt kann ich hier in Moskau alles selbst in die Hand nehmen. Und obwohl der politische Druck auf die Donbass-Hilfe größer wurde, ist die Mitgliederzahl unseres Vereins gestiegen und auch die Spenden haben sich erhöht. 

Ich denke, zu spenden ist mitunter die einzige Möglichkeit, Protest auszuüben. Nach dem Motto: Ich bin nicht einverstanden, ich möchte Frieden und Freundschaft mit Russland. 

Du bist ja oft in russischen Universitäten eingeladen, russische Fernsehkanäle interviewen Dich. In Russland bist Du inzwischen eine bekannte Persönlichkeit. 

Jugendlich und Studenten fragen mich: Was, Sie kommen aus Deutschland und Sie helfen schon zehn Jahre dem Donbass? Diesen Jugendlichen ist ja der Konflikt im Donbass erst mit dem Beginn der Spezialoperation bewusst geworden. Der unerklärte Krieg von Kiew gegen den Donbass war nicht so präsent. Es sind ja auch tausend Kilometer bis ins Kriegsgebiet. Die Schüler hatten früher die Vorstellung, wir studieren später in London oder sonst wo im Westen. Jetzt wurden sie auf einmal mit Russophobie konfrontiert und mussten sich fragen, warum das Studieren in London jetzt nicht mehr geht. 

Die erste Frage in den Unis ist jetzt immer, warum gibt es in Europa und ganz besonders in Deutschland diese Russophobie? Und dann fange ich mit der Geschichte ganz von vorne an und welche schlechte Rolle Deutschland mit der NATO-Osterweiterung spielt. 

In Mariupol habe ich den Studenten erklärt, eure Zukunft ist hier im Donbass. Es werden Fachkräfte gebraucht. Wenn ich dann aber höre, dass die Schüler jetzt statt Deutsch Chinesisch lernen, dann tut das doch schon ein bisschen weh. Aber die Studenten suchen jetzt einfach eine andere Perspektive für sich. 

Du hast mir erzählt, dass Du auf Telegram inzwischen blockiert wirst. Was hat es damit auf sich?

Man hat mir mitgeteilt, dass ich wegen „schlechter Inhalte“ gemeldet wurde. Die Nachricht kam aber nicht vom Support, sondern es war eine automatische Nachricht. Naja, wir wissen ja, das Telegram eigentlich verloren ist, nachdem dessen Besitzer, Pawel Dubrow, in Paris verhaftet wurde.

Verloren für eine normale Kommunikation?

Das, was wir vorher bei Facebook hatten und auf anderen Social-Media-Portalen, wie X, also diese ganze Zensur, gibt es jetzt auch auf Telegram. Also, eigentlich möchte ich mich gar nicht damit beschäftigen. Ob es nun Telegram gibt oder nicht, ich fahre ja trotzdem in den Donbass und organisiere dort die Hilfe. Und die, die wissen wollen, wir es mir geht, die erreichen mich schon irgendwie. 

Die Möglichkeit, die Masse zu erreichen, haben wir doch schon lange nicht mehr. Das wurde ja schon durch das Verbot russischer Medien in Europa, verstärkt mit Geldstrafen, erreicht. Immerhin hat unser Verein noch eine Homepage. Aber selbst auf dem russischsprachigen Netzwerk Vk.com merkt man jetzt, dass zensiert wird oder dass Beiträge von mir gedrosselt werden. 

Wie siehst Du Deine Zukunft? Als politischer Flüchtling kannst Du Dich nur noch in Russland und Weißrussland aufhalten. Nach Deutschland kannst Du nicht zurück?

Ich kann schon noch in mit Russland befreundete Staaten reisen. Das hat etwas mit meiner Vereinstätigkeit und mit meiner Person zu tun. Deutschland kann ich natürlich nicht mehr besuchen. Das will ich auch nicht. 

Dass sich das mal ändert, da habe ich im Moment wenig Hoffnung. Solange es uns möglich ist, die Arbeit der Friedensbrücke aufrechtzuerhalten und es Menschen gibt, die uns unterstützen, werde ich das machen. Und das höre ich hier immer wieder. „Es ist so wichtig dass ihr da seid, dass es auch ´die anderen Deutschen´ gibt.“ Wir können von hier aus die Fahne für Deutschland hochhalten, das Stück Menschlichkeit, was noch da ist, von den Leuten, die mit uns sind.  

Wie kam es, dass Du Dich in Deinem Leben auf soziale Hilfe spezialisiert hast? 

Ich bin in der DDR groß geworden und ich bin ein Kind des Sozialismus. Ein wichtiger Bestandteil unserer Werte war Humanismus, international wie auch im Alltag. Keiner wird zurückgelassen. Ich war auf einer Sportschule in der Sportart Radsport. Das hat mich geprägt. Ich war von früh bis spät dort und an den Wochenenden, wo meistens Wettkämpfe stattfanden oder Trainingslager. Disziplin, Ordnung, Fleiß, Ehrgeiz und Kameradschaft und „niemals aufgeben“ haben mich geprägt. Ich war Agitator in der Schule und im Sport und ich habe mein Land bei internationalen Wettkämpfen vertreten.

Hattest Du Vorbilder in Deiner Familie? 

Mein Großvater, sein Name war Karl Marx, war im Ministerium für Volksbildung gemeinsam mit Margot Honecker tätig. Sein Lebenswerk war die fast kostenlose Schulspeisung. Man zahlte einen Obolus von 55 Pfennig. Milch und Obst wurden allen Kindern zur Verfügung gestellt, die gesamte Schulzeit über. 

Meine Großmutter leitete im Haus des Lehrers am Alexanderplatz in Berlin die größte Bibliothek der DDR. Mein Vater war beim MFS für die Sicherheit zuständig. Meine Mutter war für das größte Klinikum in Berlin-Buch tätig.

Es galt, diese Errungenschaften der DDR zu schützen und zu verteidigen. Wir waren auch solidarisch mit Kuba, Vietnam, Mozambique, Angola und vielen anderen Ländern, die wie wir, als sozialistische Länder, sanktioniert waren. 

Was war Dein Berufswunsch als kleines Mädchen und als heranwachsende junge Frau?

Als Kind und Jugendliche hatte ich noch keinen Berufswunsch, ich konzentrierte mich vollkommen auf die sportliche Karriere, ich war aber eine sehr gute Schülerin und hatte alle Auszeichnungen für gutes Lernen. Nur mein Betragen war mit der Note 3 immer die schlechteste Zensur im Zeugnis. 

Was empfindest Du, wenn Du Menschen hilfst? 

Es ist eher kein Gefühl. Ich verband die Hilfe mit Verantwortung und Pflicht. Ich habe mich schon als Kind für Gerechtigkeit eingesetzt. Und nach der ersten Hilfe vor Ort in Donezk war klar, dass wir weiter machen.

Wie änderte sich Dein Leben nach der Vereinigung mit Westdeutschland?

Ich habe nach der Annexion der DDR Betriebswirtschaft studiert. Der Leistungssport der DDR wurde fast zerstört. Alle Trainer wurden entlassen und wir Sportler hingen zwei Jahre in der Luft. Viele sind ins Ausland gegangen. Ich bin geblieben, auch wegen meiner Familie und meinen drei kleineren Brüdern. 

Die Situation war sehr schwierig. Ich habe mich dann auf die berufliche Ausbildung konzentriert. In dieser Zeit habe ich auch geheiratet und eine Familie gegründet. Nach einigen Jahren und durch die gesundheitliche Situation in der Familie bin ich in der ambulanten Pflege „gelandet“. Eine sehr aufopferungsvolle Tätigkeit, sie hat mir viel Freude bereitet, auch wenn es sehr anstrengend war. In diesem Bereich war ich 20 Jahre tätig. Ich habe viele Patienten ambulant betreut. 

Mit Beginn des unerklärten Krieges von Kiew gegen den Donbass, der sozusagen vor unsere Haustür stattfand, und dem Wissen des völkerrechtswidrigen Angriffskrieges gegen Jugoslawien – und natürlich war ich auch in dieser Zeit immer politisch aktiv – war schnell klar, dass wir humanitär helfen müssen. Und dann nahm alles seinen Lauf, die Vereinsgründung, die Hilfe direkt vor Ort. Wir sehen mit eigenen Augen, wer auf wen schießt und die Folgen für die Bevölkerung im Donbass, wie Zerstörung und Genozid.

Tust Du Dir selbst auch mal was Gutes?

Das ist eine schwierige Frage, die ich ungerne beantworte oder besser gesagt, mich davor drücke. Eigentlich ist es dringend geboten und notwendig. Ich hatte aber noch keine Gelegenheit dazu. Ich sollte es aber mal tun und mir eine Auszeit nehmen.

Liane Kilinc kämpft ununterbrochen für die Opfer des 2014 ausgebrochenen Krieges im Donbass. Heute, 27. Januar, wurde der 80 LKW mit humanitärer Hilfe für den Donbass beladen.

 

veröffentlicht in: Globalbridge.ch

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