Liane Kilinc in Awdejewka vor zerstörten Häusern.
Triffst Du dort Menschen jeden Alters, oder nur ältere Leute?
Die dort ausharren, das sind schon meist Ältere. Oft sind es auch Frauen mit Kindern. Für die Frauen ist es schwer, in anderen Gebieten Wurzeln zu schlagen. Entweder sind die Männer gefallen, sie sind an der Front oder aus anderen Gründen nicht da. Die Frauen sind in Awdejewka in ihrer gewohnten Umgebung und haben dort ihre sozialen Kontakte. Und sie werden supergut betreut. Es ist ja jetzt schon das dritte Jahr, wo die Schulen und die Kindergärten im Donbass geschlossen sind.
Du bist jetzt seit zweieineinhalb Jahren in Russland. Es ist ja nicht ganz einfach, hier als Deutscher in einer schwierigen Zeit anzukommen. Wie war Deine bisherige Zeit hier und wie siehst Du Zukunft in Russland für Dich?
Ich sehe es als nicht so problematisch. Durch die Donbass-Hilfe haben wir ein Riesennetzwerk. Seit 2016 unterstützen wir auch die Überlebenden von deutschen Konzentrationslagern und russische Kriegsveteranen. Nach meiner Ankunft in Moskau waren die Kriegsveteranen auch die ersten, an die ich mich gewendet habe.
Was warf man Dir in Deutschland vor?
Im September 2022 war das Referendum im Donbass. Wir waren als Beobachter in Jasinowata. Auf dem Rückweg fuhren wir dann nach Moskau. Das war dann die Situation, wo das in Deutschland hochgekocht ist. In einem Artikel in einem deutschen Medium hat man uns „Kollaboration mit sowjetischen Veteranen“ vorgeworfen. Dann wurde in verschiedenen Richtungen gegen mich und den Verein strafrechtlich ermittelt. Inzwischen gibt es ein Urteil gegen mich wegen einem Z auf einem russischen LKW in Moskau.
Unserem Verein wurde die Gemeinnützigkeit entzogen. Wir haben dagegen geklagt. Ich Moment schwebt das Verfahren, weil es wahrscheinlich schwierig ist, für die, die uns erledigt sehen wollen.
Als ich in Moskau politisches Asyl beantragte, war das für Russland eine ganz neue Situation. Denn wann beantragten schon mal Leute aus dem westlichen Ausland politisches Asyl? Das ist sehr lange her. Ich habe dann später erfahren, dass das Gesetz über politisches Asyl schon dreißig Jahre alt ist, aber nie genutzt wurde, weil es Niemand in Anspruch nahm. Es war kompliziert für mich und für die russischen Behörden. Doch es ging dann recht zügig. Im Oktober 2022 stellte ich den Antrag und im Februar 2023 hatte ich den Status „politisches Asyl“.
Zuerst war das natürlich ein Schock für alle, Familie, Beruf und alles, was an einem so dranhängt. Aber für unseren Verein konnte eigentlich nichts Besseres passieren. Ich sitze ja hier sozusagen „an der Quelle“. Jetzt kann ich hier in Moskau alles selbst in die Hand nehmen. Und obwohl der politische Druck auf die Donbass-Hilfe größer wurde, ist die Mitgliederzahl unseres Vereins gestiegen und auch die Spenden haben sich erhöht.
Ich denke, zu spenden ist mitunter die einzige Möglichkeit, Protest auszuüben. Nach dem Motto: Ich bin nicht einverstanden, ich möchte Frieden und Freundschaft mit Russland.
Du bist ja oft in russischen Universitäten eingeladen, russische Fernsehkanäle interviewen Dich. In Russland bist Du inzwischen eine bekannte Persönlichkeit.
Jugendlich und Studenten fragen mich: Was, Sie kommen aus Deutschland und Sie helfen schon zehn Jahre dem Donbass? Diesen Jugendlichen ist ja der Konflikt im Donbass erst mit dem Beginn der Spezialoperation bewusst geworden. Der unerklärte Krieg von Kiew gegen den Donbass war nicht so präsent. Es sind ja auch tausend Kilometer bis ins Kriegsgebiet. Die Schüler hatten früher die Vorstellung, wir studieren später in London oder sonst wo im Westen. Jetzt wurden sie auf einmal mit Russophobie konfrontiert und mussten sich fragen, warum das Studieren in London jetzt nicht mehr geht.
Die erste Frage in den Unis ist jetzt immer, warum gibt es in Europa und ganz besonders in Deutschland diese Russophobie? Und dann fange ich mit der Geschichte ganz von vorne an und welche schlechte Rolle Deutschland mit der NATO-Osterweiterung spielt.
In Mariupol habe ich den Studenten erklärt, eure Zukunft ist hier im Donbass. Es werden Fachkräfte gebraucht. Wenn ich dann aber höre, dass die Schüler jetzt statt Deutsch Chinesisch lernen, dann tut das doch schon ein bisschen weh. Aber die Studenten suchen jetzt einfach eine andere Perspektive für sich.
Du hast mir erzählt, dass Du auf Telegram inzwischen blockiert wirst. Was hat es damit auf sich?
Man hat mir mitgeteilt, dass ich wegen „schlechter Inhalte“ gemeldet wurde. Die Nachricht kam aber nicht vom Support, sondern es war eine automatische Nachricht. Naja, wir wissen ja, das Telegram eigentlich verloren ist, nachdem dessen Besitzer, Pawel Dubrow, in Paris verhaftet wurde.
Verloren für eine normale Kommunikation?
Das, was wir vorher bei Facebook hatten und auf anderen Social-Media-Portalen, wie X, also diese ganze Zensur, gibt es jetzt auch auf Telegram. Also, eigentlich möchte ich mich gar nicht damit beschäftigen. Ob es nun Telegram gibt oder nicht, ich fahre ja trotzdem in den Donbass und organisiere dort die Hilfe. Und die, die wissen wollen, wir es mir geht, die erreichen mich schon irgendwie.
Die Möglichkeit, die Masse zu erreichen, haben wir doch schon lange nicht mehr. Das wurde ja schon durch das Verbot russischer Medien in Europa, verstärkt mit Geldstrafen, erreicht. Immerhin hat unser Verein noch eine Homepage. Aber selbst auf dem russischsprachigen Netzwerk Vk.com merkt man jetzt, dass zensiert wird oder dass Beiträge von mir gedrosselt werden.
Wie siehst Du Deine Zukunft? Als politischer Flüchtling kannst Du Dich nur noch in Russland und Weißrussland aufhalten. Nach Deutschland kannst Du nicht zurück?
Ich kann schon noch in mit Russland befreundete Staaten reisen. Das hat etwas mit meiner Vereinstätigkeit und mit meiner Person zu tun. Deutschland kann ich natürlich nicht mehr besuchen. Das will ich auch nicht.
Dass sich das mal ändert, da habe ich im Moment wenig Hoffnung. Solange es uns möglich ist, die Arbeit der Friedensbrücke aufrechtzuerhalten und es Menschen gibt, die uns unterstützen, werde ich das machen. Und das höre ich hier immer wieder. „Es ist so wichtig dass ihr da seid, dass es auch ´die anderen Deutschen´ gibt.“ Wir können von hier aus die Fahne für Deutschland hochhalten, das Stück Menschlichkeit, was noch da ist, von den Leuten, die mit uns sind.
Wie kam es, dass Du Dich in Deinem Leben auf soziale Hilfe spezialisiert hast?
Ich bin in der DDR groß geworden und ich bin ein Kind des Sozialismus. Ein wichtiger Bestandteil unserer Werte war Humanismus, international wie auch im Alltag. Keiner wird zurückgelassen. Ich war auf einer Sportschule in der Sportart Radsport. Das hat mich geprägt. Ich war von früh bis spät dort und an den Wochenenden, wo meistens Wettkämpfe stattfanden oder Trainingslager. Disziplin, Ordnung, Fleiß, Ehrgeiz und Kameradschaft und „niemals aufgeben“ haben mich geprägt. Ich war Agitator in der Schule und im Sport und ich habe mein Land bei internationalen Wettkämpfen vertreten.
Hattest Du Vorbilder in Deiner Familie?
Mein Großvater, sein Name war Karl Marx, war im Ministerium für Volksbildung gemeinsam mit Margot Honecker tätig. Sein Lebenswerk war die fast kostenlose Schulspeisung. Man zahlte einen Obolus von 55 Pfennig. Milch und Obst wurden allen Kindern zur Verfügung gestellt, die gesamte Schulzeit über.
Meine Großmutter leitete im Haus des Lehrers am Alexanderplatz in Berlin die größte Bibliothek der DDR. Mein Vater war beim MFS für die Sicherheit zuständig. Meine Mutter war für das größte Klinikum in Berlin-Buch tätig.
Es galt, diese Errungenschaften der DDR zu schützen und zu verteidigen. Wir waren auch solidarisch mit Kuba, Vietnam, Mozambique, Angola und vielen anderen Ländern, die wie wir, als sozialistische Länder, sanktioniert waren.
Was war Dein Berufswunsch als kleines Mädchen und als heranwachsende junge Frau?
Als Kind und Jugendliche hatte ich noch keinen Berufswunsch, ich konzentrierte mich vollkommen auf die sportliche Karriere, ich war aber eine sehr gute Schülerin und hatte alle Auszeichnungen für gutes Lernen. Nur mein Betragen war mit der Note 3 immer die schlechteste Zensur im Zeugnis.
Was empfindest Du, wenn Du Menschen hilfst?
Es ist eher kein Gefühl. Ich verband die Hilfe mit Verantwortung und Pflicht. Ich habe mich schon als Kind für Gerechtigkeit eingesetzt. Und nach der ersten Hilfe vor Ort in Donezk war klar, dass wir weiter machen.
Wie änderte sich Dein Leben nach der Vereinigung mit Westdeutschland?
Ich habe nach der Annexion der DDR Betriebswirtschaft studiert. Der Leistungssport der DDR wurde fast zerstört. Alle Trainer wurden entlassen und wir Sportler hingen zwei Jahre in der Luft. Viele sind ins Ausland gegangen. Ich bin geblieben, auch wegen meiner Familie und meinen drei kleineren Brüdern.
Die Situation war sehr schwierig. Ich habe mich dann auf die berufliche Ausbildung konzentriert. In dieser Zeit habe ich auch geheiratet und eine Familie gegründet. Nach einigen Jahren und durch die gesundheitliche Situation in der Familie bin ich in der ambulanten Pflege „gelandet“. Eine sehr aufopferungsvolle Tätigkeit, sie hat mir viel Freude bereitet, auch wenn es sehr anstrengend war. In diesem Bereich war ich 20 Jahre tätig. Ich habe viele Patienten ambulant betreut.
Mit Beginn des unerklärten Krieges von Kiew gegen den Donbass, der sozusagen vor unsere Haustür stattfand, und dem Wissen des völkerrechtswidrigen Angriffskrieges gegen Jugoslawien – und natürlich war ich auch in dieser Zeit immer politisch aktiv – war schnell klar, dass wir humanitär helfen müssen. Und dann nahm alles seinen Lauf, die Vereinsgründung, die Hilfe direkt vor Ort. Wir sehen mit eigenen Augen, wer auf wen schießt und die Folgen für die Bevölkerung im Donbass, wie Zerstörung und Genozid.
Tust Du Dir selbst auch mal was Gutes?
Das ist eine schwierige Frage, die ich ungerne beantworte oder besser gesagt, mich davor drücke. Eigentlich ist es dringend geboten und notwendig. Ich hatte aber noch keine Gelegenheit dazu. Ich sollte es aber mal tun und mir eine Auszeit nehmen.
Liane Kilinc kämpft ununterbrochen für die Opfer des 2014 ausgebrochenen Krieges im Donbass. Heute, 27. Januar, wurde der 80 LKW mit humanitärer Hilfe für den Donbass beladen.
veröffentlicht in: Globalbridge.ch