Unser Flugzeug startete in Moskau mit vier Stunden Verspätung. In Kasan war der Flughafen wegen Eisregen geschlossen. Nach zwei Stunden Flug landeten wir schließlich in Kasan. Beim Blick sah ich schon, dass es spannend werde würde: Am Flughafengebäude prangte der Name der Hauptstadt in drei Sprachen, auf Russisch, Englisch und Tatarisch. Auch die Ansagen im Flughafen – auf Russisch und auf Tatarisch – klangen ungewohnt.
Kasan ist älter als Moskau
Kasan hat 1,3 Millionen Einwohner und liegt am linken Ufer der Wolga. Die Stadt wurde im Jahre 1005 gegründet, ist also etwas älter als Moskau, dass im Jahre 1147 gegründet wurde. Kasan ist aber deutlich jünger als Kiew, das im 6. Jahrhundert nach Christi gegründet und das Zentrum des Kiewer Rus wurde, dem Vorläuferstaat des heutigen Russlands.
Von den vier Millionen Einwohnern Tatarstans sind 53 Prozent Tataren und 39 Prozent Russen. Seit Iwan der Schreckliche 1552 Kasan eroberte, leben Tataren und Russen friedlich zusammen. In Tatarstan gibt es heute 1.428 Moscheen und 319 Kirchen. Die Republik an der Wolga ist in Russland eines der Vorbilder für die friedliche Koexistenz von Religionen und Kulturen.
Die Tataren wurden nicht einfach nur von Russland erobert. Sie wurden über die Jahrhunderte in den Staat integriert. Auch in hohen staatlichen Ämtern findet man Tataren. Elvira Nabiullina, Vorsitzende der russischen Zentralbank und Marat Chusnullin, stellvertretender Ministerpräsident Russlands, sind tatarischer Abstammung.
Mancher wird denken, Krim-Tataren und Wolga-Tataren, seien ein und dasselbe. Nein, es sind zwei verschiedene Völker. Beide Völker stammen zwar von der „Goldenen Horde“ unter Dschingis Khan ab, die im 14. Jahrhundert große Teile des heutigen Russlands unter seine Kontrolle gebracht hatte. Auch sprechen beide Völker eine Turk-Sprache. Doch die Sprache der Wolga-Tataren und der Krim-Tataren unterscheidet sich so stark wie das Ukrainische vom Russischen.
Liebesgeschichte in tatarischem Dorf
Wegen unserer Verspätung schafften wir es gerade noch zu der Vorstellung im staatlichen Kamal-Theater. In dem Theater werden Stücke in tatarischer Sprache gespielt. Die äußere Erscheinung des Kamal-Theaters ist ungewöhnlich. Es ist ein 1986 errichteter, schlichter quadratischer Monumentalbau, der teilweise ein schräges Dach hat.
Wir sahen das Schauspiel „Senger Schel“ („Das blaue Tuch“) von Karim Tinschurin. Der Saal war voll. Auch viele jüngere Leute waren da. Wer kein Tatarisch versteht, konnte sich mit einem Kopfhörer an seinem Sitzplatz einstöpseln und einer Simultan-Übersetzung auf Russisch oder Englisch lauschen.
Das Stück – eine Mischung aus Komödie und Musical – handelt von der Liebe zwischen zwei jungen Leuten, Bulat und Majsar. Es wurde im Jahre 1926 – also wenige Jahre nach der Oktoberrevolution – geschrieben.
Wie ich später vom Theater-Direktor Ilfir Jakupow erfuhr, ist das Stück trotz dreistündiger Spieldauer ein Publikumsrenner. Es wird in der jetzigen Inszenierung schon seit zehn Jahren einmal im Monat gespielt.
Eine Bande im nachrevolutionären Russland
Welche Handlung hatte das Stück? In einem tatarischen Dorf tanzt der junge Mann, Bulat, mit einem großen blauen Tuch. Die Frauen des Dorfes sind von dem Tuch fasziniert. Bulat wirbt um die junge Majsar, doch ihm kommt ein Mann in die Quere, der Bulat aus Eifersucht mit einem Messer bedroht. Bulat wehrt sich, entwendet dem Angreifer das Messer und tötet ihn im Affekt.
Währen Bulat sich im Wald versteckt hält, wird Majsar von einem geschäftstüchtigen Mullah zur fünften Frau genommen. Der Mullah lässt sich von Dorfbewohnern Erzeugnisse landwirtschaftlicher Produktion bringen und vertreibt im Gegenzug „böse Geister“.
Bulat schließt sich in seinem Gram einer Bande von Pferdedieben, Geldfälschern und Revolutionären an. Bei einer Zusammenkunft preist der Pferdedieb das schöne Gefühl, nachts ein Pferd zu stehlen, der Fälscher schwelgt von der Herrlichkeit vieler Geldscheine, der Anarchist von einer Gesellschaft ohne Staat. Ein Vierter erregt sich, warum man für das Abbrennen eines Herrenhauses lebenslänglich bekommt, für andere Verbrechen aber nur acht Jahre. Ein Waldschrat macht sich über den Falschmünzer lustig. Bulat sitzt – den Kopf in die Hände gestützt – und sinnt darüber nach, wie er Majsar für sich gewinnen kann.
Die Männer im Wald beschließen, Majsar aus den Fängen des Mullahs zu befreien, was auch gelingt. In einer feierlichen Abschlussszene hüllt Bulat seine Geliebte in sein großes, blaues Tuch. Das Schauspiel war mitreißend. Es wurde getanzt, gesungen, geschimpft und gescherzt. Das Orchester spielte eine Musik, die an Peking-Opern erinnerte.
Modernstes Rehabilitationszentrum der Region
Am nächsten Tag besichtigten wir herausragende Objekte der sozialen Infrastruktur von Kasan. Dazu gehörte das hochmoderne Rehabilitationszentrum im Städtischen klinischen Krankenhaus Nr. 7, in der der Tschujkowa-Straße.
Wir fuhren in eine der oberen Etagen das Krankenhauses, wo ich Dinge sah, die ich in Russland bisher nicht gesehen hatte. An den Decken befestigte halbautomatische Transportanlagen, mit denen Kranke vom Bett zum Bad transportiert werden können, ein Beruhigungsraum mit gedämpftem Licht und afrikanischen Trommeln sowie ein großer Saal wo Patienten mit Bewegungseinschränkungen mit Hilfe von Trainern und elektronischer Geräte lernen, Finger, Beine und das Becken wieder funktionsfähige zu machen.
Hier herrschte keine Hektik und man hörte keine lauten Worte, wie es sie sonst oft in russischen Krankenhäusern gibt. Hier sprach man ruhig und es war genug Personal da. Mir wurde versichert, dass diese Zeit- und Personalaufwendigen Rehabilitationsmaßnahmen ausnahmslos von der staatlichen Pflichtversicherung OMS bezahlt werden.
Als ich die Rehabilitations-Abteilung verließ, fragte mich eine Mitarbeiterin der Presseabteilung des Krankenhauses, nach meinem Eindruck. Ich sagte, ich hätte so etwas seit 30 Jahren in Russland noch nicht gesehen und sei froh, dass Russen jetzt endlich diese Fürsorge bekommen.
Die Schule „Adymnar“
Nach dem Krankenhaus besuchten wir die Schule Adymnar. Die Schule ist nördlich des Stadtzentrums in einem luftigen Neubau untergebracht.
In der Schule lernen auf 50.000 Quadratmetern 3.000 Schüler. In der ersten Klasse eingeschult werden vorwiegend Kinder aus dem Wohnbezirk. Nur wenn noch Plätze frei sind, werden auch noch Kinder aus anderen Stadtbezirken genommen. Angegliedert an die Schule gibt es ein Internat für 300 Schüler, die von außerhalb der Stadt kommen.
Die Schüler tragen eine Schuluniform, weiße Hemden und dunkelblaue Jacken. Die Klassen sind mit Glaswänden vom Korridor getrennt. Die Wände in den Innenräumen sind in einem frischen Grün gestrichen. Es gibt eine Ambulanz, einen Zahnarzt, ein Schwimmbad, einen modernen Theater-Saal und einen großen Speisesaal. Die Schule finanziert sich neben staatlichen Zuwendungen auch über Spenden und kann deshalb mehr anbieten, als übliche Schulen.
Die Adymnar-Schule besteht aus zwei Flügeln, erklärte die Lehrerin Tatjana Dawidowa. In einem polilingualen Flügel wird die tatarische und englische Sprache unterrichtet und einige Unterrichtsfächer in der tatarischen Sprache. Ab der fünften Klasse kommt Arabisch oder Türkisch als zweite Fremdsprache hinzu. Im bilingualen Flügel der Schule ist Englisch die erste Fremdsprache. Ab der fünften Klasse wird Spanisch als zweite Fremdsprache unterrichtet.
Schulen vom Typ „Adymnar“ gibt es in Tatarstan sechs. Ziel dieser Schulen ist der vertiefte Unterricht von Russisch, Tatarisch und Englisch, erklärte der Bildungsminister von Tatarstan, Ilsur Chadiullinu, der uns beim Rundgang durch die Schule begleitete. Außerdem könne man an den Adymnar-Schulen außer Russisch, Tatarisch und Englisch noch Türkisch, Arabisch, Deutsch, Italienisch und Spanisch lernen, berichtete der Minister. Hochschulen in Kasan bildeten Lehrer aus, die auch in den Naturwissenschaften auf Russisch, Tatarisch und Englisch unterrichten können.
Tatarische Sprache jetzt nur noch auf freiwilliger Basis
In Tatarstan gab es seit 1990 zwei offizielle „Staatssprachen“, Russisch und Tatarisch. 1994 wurde zwischen Moskau und Kasan ein extra Vertrag vereinbart mit dem Tatarstan weitere Sonderrechte zugestanden wurden. Diese Sonderrechte – wie eine tatarische Staatsbürgerschaft sowie die Verfügungsgewalt über die Ressourcen in Tatarstan – wurden seit dem Amtsantritt von Wladimir Putin zum Präsidenten im Jahre 2000 Stück für Stück abgeschafft. Bereits im Jahre 2000 bezeichnete Putin Sonderverträge zwischen Moskau und den Republiken in Russland als „Zeitbombe“. Die Gefahr, dass Russland zerfällt war damals noch nicht gebannt.
Bei meinem Besuch in Kasan zeigte mir eine Tatarin ihren russischen Pass, der 2010 ausgestellt worden war. Darin gab es noch eine Seite mit dem tatarischen Wappen. Solche Pässe würden heute nicht mehr ausgegeben, erzählte mir die Frau.
Im Jahre 2019 rechnete Putin auch mit Lenins Nationalitätenpolitik ab. Dass Lenin den Republiken der Sowjetunion das Recht zum Austritt aus dem Staatsverband zugestanden hatte, war nach Meinung des russischen Präsidenten eine Steilvorlage für den Separatismus. Putin fürchtet vom Ausland angeheizte Unabhängigkeitsbestrebungen, wie in den 1990er Jahren in Tschetschenien.
2018 erließ das russische Parlament auf Drängen von Putin ein Gesetz, nachdem die tatarische Sprache an Schulen in Tatarstan kein Pflichtfach mehr ist. Die Sprache kann aber auf Wunsch der Eltern und Kinder unterrichtet werden. Diese Änderung hat in Tatarstan heftige Diskussionen ausgelöst.
Die Bezeichnung „Präsident von Tatarstan“ ist nur noch bis 2025 gültig
Auch die von Putin verfügte Anordnung, dass die Präsidenten der Republiken in Russland sich jetzt nur noch „Glawa“ (Oberhäupter) nennen dürfen, sorgte in Tatarstan für Diskussionen.
Doch die Führung der Republik Tatarstan will keinen Konflikt mit Moskau und ausdrücklich „nicht protestieren“, wie der Präsident von Tatarstan, Rustam Minnichanow, am 23. Dezember 2022 vor dem Staatsrat von Tatarstan erklärte. Tatarstan sei auf Gelder aus Moskau für Infrastruktur- und Industrieprojekte angewiesen. Außerdem führe der Westen eine Kampagne gegen Russland. Man wolle nicht, dass der Westen sagen kann, „in Tatarstan gibt es einen Aufstand“. Immerhin habe man in einem Dialog mit Moskau erreicht, dass der Leiter von Tatarstan sich noch bis 2025 „Präsident“ nennen darf.
Wie kam es zu den Republiken in Russland?
Russland besteht heute aus 89 Subjekten, darunter sind 14 Republiken, die bisher alle von einem Präsidenten geleitet wurden.
Nach der Oktoberrevolution gab Lenin den von nationalen Minderheiten kompakt bewohnten Gebieten den Status einer Republik, mit der Absicht, diese Gebiete besser in die Sowjetunion zu integrieren.
Mit der Statuserhöhung sollte den Republiken eine nachholende Entwicklung auf dem Gebiet der nationalen Kultur ermöglicht werden. Erst nach der Oktoberrevolution erhielten viele der kleinen Völker ihre ersten Wörter- und Lehrbücher in der eigenen Sprache.
Boris Jelzin 1990 in Kasan: „Nehmt euch so viel Souveränität, wie ihr könnt!“
Während der Perestroika instrumentalisierte Boris Jelzin – damals Volksdeputierter eines Moskauer Bezirks – den Drang nach Unabhängigkeit der kleinen Völker im Kampf gegen Gorbatschow. Am 6. August 1990 erklärte Jelzin auf einer Kundgebung in Kasan, „nehmt Euch so viel Souveränität, wie ihr könnt“. Der Aufruf von Jelzin gab dem schon in der Perestroika begonnenen Staatszerfall neuen Schub.
Tataren und Russen feiern gemeinsam
Während unserer Rundgänge in der Stadt befragte ich unsere Begleiterinnen zum Zusammenleben von Russen und Tataren. Jekaterina Tschernjak, eine Journalistin, erzählte, sie sei 1986 geboren worden und „zur Hälfte Russin, zur Hälfte Tatarin. Ich bin ein Kind der Sowjetunion. Man erzog uns so: Wir sind eine Familie. Wir haben keine Unterschiede zwischen den Nationen. Wenn es einen Feiertag der Tataren gibt, gehen wir Russen dorthin. Und Ostern gehen dann alle Tataren zu den Russen. So leben wir schon viele Jahre.“
Lilia, eine Tatarin im Alter von etwa 50 Jahren, erklärte, „die wichtigste Idee unserer Republik ist die Toleranz. Nationalisten haben bei uns haben keine Chance, weil die meisten Familien russisch-tatarisch gemischt sind. Mein Mann ist zur Hälfte Russe, zur anderen Hälfte Tatare“.
Amerikanische Firmen gehen, chinesische und deutsche kommen
Wirtschaftlich ist Tatarstan eine Schlüsselregion in Russland. Hier wird nicht nur Öl gefördert, sondern auch weiterverarbeitet. Aus Tatarstan stammen 25 Prozent der russischen Polyethylen-Kunststoffe, 41 Prozent des synthetischen Kautschuks, 59 Prozent der russischen Lastwagen-Reifen und 37 Prozent der russischen Lastwagen. In Tatarstan wird der berühmte „Kamas“ Lastwagen hergestellt.
Die von der russischen Regierung angeordnete Ersetzung ausländischer durch russische Zulieferprodukte hat Kamas teilweise umgesetzt, wie die Tatarische Agentur für Investitionsentwicklung mitteilte.
Die Flugzeugfabrik von Kasan bereitet sich auf die Wiederaufnahme der Serienfertigung der Tupolew 214 vor. Das Passagierflugzeug, das ganz ohne Teile aus dem Ausland auskommt, wurde noch in der Sowjetunion entwickelt, dann aber von Boing und Airbus vom russischen Markt verdrängt.
Das Bruttoregionalprodukt von Tatarstan ist im letzten Jahr – trotz der westlichen Sanktionen – nur leicht gesunken. Nach Angaben der tatarischen Agentur für Investitionsentwicklung verringerte sich das Bruttoregionalprodukt von Tatarstan von 49 Milliarden Euro im Jahr 2021 auf 47 Milliarden Euro im Jahr 2022.
Die ausländischen Investitionen in Tatarstan sanken allerdings 2022 um 71 Prozent, im Vergleich zum Vorjahr. US-amerikanische Firmen wie Ford, Coca-Cola und Kentucky Fried Chicken verließen Tatarstan, aber auch die finnische Baufirma YIT, die französische Schneider Electric sowie Siemens und Ikea.
Dafür gab es Neuansiedlungen von chinesischen Unternehmen. Ein chinesischer Hersteller von Haushaltstechnik baute drei Fabriken in dem Industriezentrum Nabereschnije Tschelny. Zwei weitere chinesische Firmen nahmen die Produktion im Bereich der Metallverarbeitung und der Glasproduktion auf. Als neue Investoren in die Republik an der Wolga kamen außerdem: Iida Sangyo, eine japanische Firma für Fertighäuser und zwei deutsche Plastikhersteller, Schülken Form Rus und Polychem Systems. Die türkische Firma Polimeks baute zwei Hotels.
Mein Gesamteindruck von Kasan war sehr gut. Die Fußmärsche durch die Stadt waren zwar nicht einfach, weil alle Wege durch Eisregen glatt waren und nicht gestreut wurde. Aber die vielen neuen Eindrücke überlagerten diese Unannehmlichkeit. Wenn es eine Gelegenheit gibt, werde ich sehr gerne wieder nach Tatarstan fahren.
veröffentlicht in: Nachdenkseiten
Titelbild: shutterstock / Kosmogenez
Meine Foto-Reportage aus Tatarstan