In dem Ort nicht weit von der afghanisch-tadschikischen Grenze leben vor allem Usbeken und usbekische Flüchtlinge aus dem Süden Afghanistan. Etwa ein Drittel der Frauen ist in weiße Umhänge gehüllt, die sie von Kopf bis Fuß bedecken. Nur ein kleines Gitterfenster aus Stoff erlaubt den Blick nach außen. Wenn die Frau ein Kind bei sich trägt, sitzt es - unbedeckt vom Schleier - auf der Hüfte der Mutter.
Die Menschen in Daschti Kala leben in einer anderen Zeit. Sie wohnen in flachen Lehmbauten. Häuser aus Stein sind eine Seltenheit. Es gibt keine Elektrizität, kein Telefon und kein fließendes Wasser. Die einzige Verbindung zur Außenwelt sind die kleinen Transistorradios mit denen bärtige Männer auf Straßen und Feldwegen spazieren gehen. Sie hören Nachrichtensendungen aus dem Iran, Tadschikistan und den USA in ihrer Landessprache, Dari.
Das Zeitalter der Esel
Ein paar Regentropfen versinken im staubigen Boden. Ein kräftiger Erdgeruch steigt auf. Das erste Mal seit acht Monaten spendet der Himmel Feuchtigkeit. Die lehmigen Ackerböden sind staubtrocken. Nur an den seltenen Bächen gibt es Grün. Auf den Maisfeldern arbeiten die Bauern mit einfachstem Werkzeug. Das trockene Maisstroh bringen sie mit ihren Eseln in die Dörfer.
Auf der Straße patroullieren Soldaten in langen grauen oder weißen Gewändern, über der Schulter eine Kalaschnikow. Ab und zu ziehen Kamele vorbei. Die riesigen Brennholzstapel, welche sie auf dem Rücken tragen, wiegen sich leicht im Takt des gemächlichen Ganges. Ab und zu donnert ein ausgedienter russischer Armeejeep die Straße hinunter, eine Staubwolke hinter sich herziehend.
Über der Landschaft liegt ein bräunlicher Schleier aus Wüstenstaub. Aus der Ferne dröhnen schwere Geschütze. Die Front, an der die Nordallianz auch Panzer und Haubitzen einsetzt, liegt nur fünf Kilometer von der Ortschaft entfernt. Vor zwei Wochen haben die Taliban Daschti Kala beschossen. Ganze Häuserzeilen versanken in Schutt.
Wir kommen mit usbekischen Flüchtlingskindern ins Gespräch. Der Großteil von ihnen kann weder lesen noch schreiben, kennt nur Krieg und Flüchtlingsalltag. Einer der Jungen hält eine braune Pappschachtel mit dem Aufdruck "Geschenk des amerikanischen Volkes" in der Hand. Daraus zieht er stolz eine eingeschweißte Packung "Reis mit Gemüse und Sauce", die er uns zum Probieren reicht. Er selbst wagt nicht, das ungewöhnliche Geschenk zu öffnen.
Die Amerikaner haben die Pakete abgeworfen. Zu der Lebensmittelhilfe gehörten auch Päckchen mit Peanutsbutter, Biskuits und Erdbeermarmelade - alles mit exakten - Kalorienangaben. Später sehen wir, wie die Hilfspakete gegen blaue Afghanis - die Landeswährung - verkauft werden.
Chabibul Rachmon, ein Zwanzigjähriger, erzählt, die Familie sei vor sechs Jahren aus dem Südwesten Afghanistans in die Nähe von Kundus im Norden geflohen. Sein Vater halte sich jetzt mit einem kleinen Laden über Wasser. Die Luftangriffe der USA unterstützte er, solange sie sich gegen die Taliban und die Terroristen richteten. Nur friedliche Menschen dürften nicht sterben. Ob er sich an den Krieg gewöhnt habe, wollen wir wissen. Chabibul antwortet mit einem zögernden "Nein". Dann erklärt er: "Nach dem Krieg müssen wir arbeiten."
Auch einen anderen jungen Mann hat es aus dem Süden in den Norden verschlagen. Gadom Mamat trägt unter seinem braunen Gewand einen Militärdolch mit eingravierter sowjetischer Bestandsnummer. "Der ist mir aus Armeebeständen zugeteilt worden", erklärt Gadom. Die Kalaschnikow über der Schulter weist ihn als Soldaten aus. "Wir sind aus dem Süden geflüchtet, weil die Taliban uns in die Armee zwingen wollten."
Ein paar Kilometer von Daschti Kala schlängelt sich der tadschikisch-afghanische Grenzfluss Pjantsch malerisch durch die trockenen Sandberge. Auf der tadschikischen Seite des Flusses vor der kleinen Fähre am Grenzkontrollpunkt Kokul stauen sich lange Reihen altersschwacher, mit Mehlsäcken beladener Trucks. Uralte Tankwagen bringen Benzin aus Russland. Die Armee der Nordallianz ist von russischen Treibstofflieferungen abhängig.
Niederlage in den Knochen
Der Grenzübergang Kokul ist einer von zwei Landverbindungen zwischen Tadschikistan und Afghanistan. Gelegentlich wird er nachts von Scharfschützen der Taliban beschossen. Die Front ist etwa 25 Kilometer weit entfernt. Dass diese Lebensader noch intakt ist, grenzt an ein Wunder. Der Kommandeur der russischen Grenztruppen meint mit abwertender Handbewegung: "Die Nordallianz und die Taliban teilen doch die Waffenlieferungen untereinander auf." Abschätzige Bemerkungen über die Nordallianz hört man von den russischen Soldaten häufig.
Die Niederlage im Afghanistan-Krieg steckt den Russen immer noch in den Knochen. Den Afghanen, egal von welcher Seite, traut man nicht. Den letzten großen Angriff auf den Grenzübergang gab es vor einem halben Jahr. Sollte es hinter der Front zwischen den kämpfenden Parteien gemeinsame ökonomische Interessen geben?
In Sichtweite vom russischen Grenzposten, auf der afghanischen Seite des Flusses, befindet sich ein Trainingscamp der Nordallianz und ein Nachschublager für Militärtechnik. Hier stehen auf freiem Feld in Reih und Glied Tankwagen, alte sowjetische Panzer und mit Raketenwerfern bestückte Jeeps. Daneben trainieren Soldaten der Nordallianz in nagelneuen Kampfanzügen, made in Iran.
Nicht weit vom Stützpunkt in einer Schlucht stapeln sich Munitionskisten in frischem Grün, ebenfalls aus iranischer Produktion. Der stellvertretende Verteidigungsminister der Nordallianz, General Baryalai Khan, erklärt später, Waffen vom Iran, Indien und Russland kaufe man zum ermäßigten Preis. Geschenkt bekomme man nichts. Die vom russischen Verteidigungsminister, Sergej Iwanow, versprochene neue Militärtechnik ist nirgends zu sehen.
Wir werden von einigen freundlich lächelnden Soldaten umringt. Sie möchten fotografiert werden. In einem Land ohne Fotoapparate und Fernseher ist das wie ein Gastgeschenk. Warum die Nordallianz in den letzten Jahren Geländeverluste hinnehmen musste, wollen wir wissen. Die Soldaten antworten wie im Chor, der Gegner werde von Pakistan unterstützt.
Der Soldat Amonelah berichtet, im Pandschir-Gebirge habe er gegen Soldaten aus Kaschmir, aus arabischen Ländern und gegen Tschetschenen gekämpft. Eigenhändig habe er einen Tschetschenen gefangen genommen. Dem war die Munition ausgegangen. Die Tschetschenen seien gute Kämpfer. "Sie kämpfen bis zum Tod. Wir hassen sie." Gefangene wurden aber gut behandelt und nicht bestraft. Man ernähre sie und bringe sie notfalls in ein Krankenhaus.
Wo steckt der "Duschman"?
Vom Nachschub- und Trainingslager geht es weiter an die Front bei Daschti Kala. Langsam arbeitet sich der Militärtransporter durch die Furt im Kutschka-Fluss. Dann geht es auf einer kurvigen, engen Straße durch das Vorgebirge. Immer wieder treffen wir auf kleine Gruppen von Soldaten der Nordallianz in abenteuerlichen Umhängen und mit Turbanen, bewaffnet mit Kalaschnikows. Manche ziehen an die Front, andere kommen uns entgegen. Einige sind zu Fuß unterwegs, andere auf dem Pferd. Zu beiden Seiten unseres Weges liegen abgeerntete Reisfelder. In der warmen Herbstsonne hat die Gegend etwas Liebliches.
Wären da nicht die ausgebrannten und zerstörten Lehmhäuser und der Geschützdonner, der immer wieder durch die Vorgebirgsgegend hallt, könnte man fast meinen, es herrsche tiefer Frieden. Als der Weg fur den Transporter zu eng wird, geht es auf einem Trampelpfad im Schutz eines Laubwaldes zu Fuß weiter. Am Rande des Pfades treffen wir auf Gräber von Gefallenen. Am Steingrab eines Kommandeurs haben die Menschen zum Andenken bunte Stofffetzen an einem Baumast befestigt.
Als wir auf eine Lichtung stoßen, weist uns unser Begleiter mit einer heftigen Armbewegung an, die Lichtung einzeln zu überqueren. Dann müssen wir uns in einen Schützengraben ducken. Niemand kann exakt sagen, wer gerade schießt, die Taliban oder die Nordallianz. Unser Führer weist auf die am anderen Ende des Feldes liegende Baumreihe. Dort ist der "Duschman", der Feind. Bis zu der Baumreihe mögen es etwa 500 Meter sein. Aus Angst, Aufmerksamkeit zu erregen, ducken wir uns so tief wie möglich in dem Schützengraben. Hinter der Baumreihe erhebt sich der strategisch wichtige Berg Kalakata.
Vor zwei Monaten haben wir den Berg und drei dahinter liegende Rayons erobert. "Wir konnten die Gebiete zwei Tage halten. Dann mussten wir uns wieder zurückziehen", berichtet unser Begleiter. Es ist eine unsichtbare Front am Fuße des Berges Kalakata. Ohne jede durchgehende Linie von Schützengräben oder anderen Verteidigungsstellungen. Die Front bewegt sich vor und zurück. Nur die beiden Kampfparteien wissen wirklich, wo die Front verläuft.
Unser Marsch entlang des Feldrandes führt uns zu einem letzten vorgeschobenen Posten, Quroch. Die Soldaten haben ihre Stellung mit Schießscharten in eine kleine Anhöhe eingegraben. Sie sitzen mit ihren Sprechfunkgeräten auf der Spitze der Anhöhe und schenken dem Feind am gegenüberliegenden Kalakata-Berg wenig Aufmerksamkeit. Heute sei ein ruhiger Tag, erklärt man uns.
Im unmittelbaren Umkreis der Anhöhe sieht man diverse Erdlöcher. Es sind die Eingänge zu einem weit verzweigten Tunnelsystem. Es bietet den Soldaten der Nordallianz Schutz vor den Granaten und Raketen des Gegners. Der Kommandeur des Frontabschnitts, Ahmad Baschir, befehligt 600 Soldaten, Usbeken und Tadschiken. Der Großteil der Einheit kommt aus dem südlich gelegenen Kundus. Die Männer wurden von den Taliban vertrieben. Jetzt wollen sie sich ihre Heimat zurückholen.
Reiche Kontrolleure
Feldkommandeure wie Baschir sind die wirklich mächtigen Männer in Afghanistan. Es gibt zwar auch eine Regierung. Aber sie hat in Nordafghanistan nur wenig Einfluss. Die Feldkommandeure sind in Afghanistan mächtige und oft reiche Männer. Sie kontrollieren die Front und damit auch den Schmuggel von Drogen und anderen Gütern über die Grenze.
Später sitzen wir im Hauptquartier von Baschirs Einheit. Sie liegt in einem Wäldchen hinter der Frontlinie. An den Wänden des ausgebrannten Lehm-Bauernhauses sind mit Holzkohle Porträts von Frauen und Männern gemalt. Der Raum, in dem man uns zum Tee bittet, ist mit Teppichen ausgelegt. Man sitzt auf dem Boden. An den Wänden hängen Patronentaschen und Kalaschnikows mit afghanischen Bestandsnummern. Die alten Nummern sind ausgeschliffen.
Unsere Gastgeber stellen sich erneut zum Foto auf. "Allah steht auf unserer Seite", erklärt einer von ihnen. "Wir schützen unsere Heimat. Die Taliban kommen doch aus Pakistan."
veröffentlicht in: Rheinischer Merkur