18. January 2022

Kasachstan: "Unwahrscheinlich, dass es sich um 8.000 Terroristen handelt" (Telepolis)

Clare Daly. Bild: GUE/NGL, CC BY-SA 2.0
Foto: Clare Daly. Bild: GUE/NGL, CC BY-SA 2.0

18. Januar 2022  

Die EU-Abgeordnete Clare Daly zu den Protesten in Kasachstan, die sozialen Ursachen der Aufruhr und warum sie jetzt in das mittelasiatische Land fahren möchte

Frau Daly, was war Ihre erste Reaktion auf die Proteste in Kasachstan, die am 2. Januar begonnen haben?

Clare Daly: Als ich von den Protesten hörte, war ich überrascht. Man hörte sonst nichts über Kasachstan. Der Grund war die Erhöhung der Gaspreise, die von der Regierung bekannt gegeben wurde. Diese Preiserhöhung hatte für die Bevölkerung massive Auswirkungen.

Was wussten Sie bis dahin über Kasachstan?

Clare Daly: Ich muss sagen – und das gilt wohl für die meisten Bürger und Politiker der Europäischen Union – dass mein Wissen über Kasachstan begrenzt ist. Ich hatte gehört, dass 2011 die Arbeiterbewegung in der Stadt Schanaosen im erdölreichen Westen von Kasachstan zerschlagen wurde. Dort wurden Aktivisten ermordet.

Mir war auch bekannt, dass die kasachischen Oligarchen und ihre Familien nach London geströmt sind. Kasachstan hat viele Probleme und einen großen Reichtum an Bodenschätzen. Und ich wusste, dass der Gewinn aus diesen nationalen Reichtümern nicht gerecht verteilt ist. Die Reichtümer wurden geraubt und kommen nur einer reichen Schicht an der Spitze der Gesellschaft zugute. Viel von diesem Geld landete in London und den Vereinigten Staaten.

Der kasachische Milliardär Timur Kulibajew, der mit einer Tochter von Ex-Präsident Nasarbajew verheiratet ist und der das kasachische Autogas kontrolliert, soll in Großbritannien eine Villa von Prinz Andrew gekauft haben.

Clare Daly: Es gibt viele dieser kasachischen Oligarchen in England. Und sie haben untereinander Konflikte. Wir sprechen über Milliarden Euro. Es müsste eigentlich den Menschen in Kasachstan zugute kommen, aber es wurde gewaschen und fand seinen Weg in Unternehmen, die an der Börse von London gelistet sind.

Die kasachischen Oligarchen sind gut in die westliche kapitalistische Wirtschaft integriert. Reiche Unternehmen im Westen haben massiv von diesem Geld profitiert.

Es ist eine Aufgabe von uns allen in der Europäischen Union mehr über die Ereignisse in Kasachstan herauszufinden und nicht einfach die Narrative der Medien zu übernehmen.

Bewertung des OVKS-Einsatzes steht noch aus

Als Sie hörten, dass Russland und andere Mitglieder des Verteidigungsbündnisses "Organisation des Vertrages über kollektive Sicherheit" (OVKS) Truppen nach Kasachstan schickt – was war ihre spontane Reaktion?

Clare Daly: Tiefe Besorgnis. Ich bin generell dagegen, dass Truppen das Territorium eines anderen Staates betreten, insbesondere, wenn der Protest zunächst von einer massiven Bewegung der Arbeiter und durch wirtschaftspolitische Forderungen getragen wurde.

War die Entsendung russischer Truppen also gerechtfertigt, diente sie dem Frieden?

Clare Daly: Ob die Entsendung gerechtfertigt war oder nicht, ist schwer zu sagen. Es scheint, dass die Anwesenheit von Truppen einen Raum für die Wiederherstellung der Ordnung und ein Ende von Plünderungen und Gewalt gebracht hat. Aber es ist noch zu früh, zu urteilen, ob die Truppenentsendung zu einer gerechten Einigung in Kasachstan beiträgt.

In Russland ist die Linke gespalten. Ein Teil unterstützt die Entsendung russischer Truppen nach Kasachstan, damit sich die Situation dort stabilisiert. Der andere Teil ist strikt gegen eine Entsendung russischer Truppen. Man argumentiert, dass es in Kasachstan eine Arbeiterbewegung mit korrekten Forderungen gibt. Warum sollen russische Soldaten ein oligarchisches System verteidigen?

Clare Daly: Zweifellos ist die Linke in Europa und auch in Irland in dieser Frage gespalten. Einige Abgeordnete im irischen Parlament von der trotzkistischen Gruppe "People Before Profit" haben sehr schnell und kategorisch erklärt, dass es sich bei der Bewegung in Kasachstan um eine reine Arbeiterbewegung handelt, die man unterstützen muss.

Meiner Meinung nach ist diese Position, dass es in dieser Protestbewegung keinerlei ausländische Einmischung und keinen Terrorismus gegeben hat, zu engstirnig.

Dieser Teil der Linken hat Russlands Einmischung rasch kritisiert. Ich halte es für falsch, ein solches Narrativ zu übernehmen, anstatt solidarisch darüber zu streiten, wie man angemessen reagieren kann.

Ein Aufruf, den einige Linke in Irland und Europa verbreiteten und der jetzt 200 Unterzeichner hat, war sehr russland- und chinakritisch. In dem Appell wurden auch die USA und die EU kritisiert, weil sie dazu aufgerufen haben, dass sich in Kasachstan beide Seiten zurückhalten sollen.

"Zu einem großen Teil eine Arbeiterbewegung"

Sie glauben also nicht, dass es eine reine Arbeiterbewegung war?

Clare Daly: Es war zweifellos zu einem großen Teil eine Arbeiterbewegung. Aber das ist nicht alles. Ich glaube, die Geschwindigkeit, mit der sich die Ereignisse entwickelten und das Ausmaß der Gewalt und der Plünderungen ist ungewöhnlich für eine Massenbewegung.

Wahrscheinlich muss man sagen, dass es mehrere Erzählungen gibt. Wahrscheinlich stecken hinter diesen Protesten Oligarchen und ich habe keinen Zweifel, dass Kräfte aus dem Ausland und Terroristen bei den Ereignissen mitmischten.

Clare Daly wurde 2019 in Dublin in das Europäische Parlament gewählt, wo sie zur Gruppe der Linken gehört. Zuvor war sie acht Jahre Abgeordnete im irischen Parlament und Bezirksrätin. Daly wurde 1968 geboren, studierte Buchhaltung und arbeitete im Catering-Bereich des Flughafens von Dublin, wo sie Betriebsrätin und Gewerkschaftsaktivistin war.

War es eine spontane Protestbewegung oder gar eine Revolution, wie einige russische Linke sagen?

Clare Daly: In einem so großen Land, das recht autoritär regiert wird, einen landesweiten Protest zu organisieren, ist schwer. Es ist offensichtlich, dass die staatlichen Organe keine Kontrolle über die Protestbewegung hatten. Es ist aber auch offensichtlich, dass staatliche Organe von Privatpersonen benutzt wurden.

Das schmälert aber nicht die Rolle der einfachen Menschen, die auf die Straße gegangen sind, um Gerechtigkeit einzufordern. Das Ausmaß der Gewalt und die Geschwindigkeit, mit der auf Seiten der Demonstranten Waffen gegen die Polizei eingesetzt wurden, sowie die Tatsache, dass eine Reihe von Demonstranten den Eindruck gemacht haben, sie hätten ein Kampftraining absolviert – all das deutet darauf hin, dass fremde Elemente sich an den Protesten beteiligt haben, um einen Vorteil zu erzielen.

Ich gehe davon aus, dass es jetzt eine Untersuchung der Ereignisse geben wird. Das müsste eine unabhängige Untersuchung sein, die das Vertrauen der Menschen in Kasachstan hat. Es heißt, dass rund 8.000 Menschen ins Gefängnis gekommen sind. Es ist unwahrscheinlich, dass es sich dabei um 8.000 Terroristen handelt. Ich bin sicher, dass auch einfache Bürger festgenommen wurden.

Treffen in Kasachstan angestrebt

Sie wollen nach Kasachstan fahren?

Clare Daly: Es wäre gut nach Kasachstan zu fahren und so viel Menschen zu treffen wie möglich. Man müsste Menschen von allen Seiten treffen. Es wäre gut, die Bergarbeiter und die Protestler zu treffen. Außerdem müsste man Vertreter der neuen Regierung und des Geheimdienstes treffen.

Gewerkschafter, Bürger und Linke aus Europa sollten eine solche Reise organisieren. Denn über die Konflikte in den postsowjetischen Staaten hören wir in den westlichen Medien so gut wie nichts Fundiertes. Wir sollten dorthin hingehen, ohne uns vorher ein Bild zu machen, was wir dort finden werden.

Wie beurteilen sie die Reaktion der EU?

Clare Daly: Die Reaktion der EU war äußerst fragwürdig. Sie interessierte sich nicht, als die friedliche Bewegung gegen die Gaspreiserhöhung begann. Die EU interessierte sich erst für die Ereignisse, als die Truppen der OVKS nach Kasachstan geschickt wurden.

Die EU ist auf der einen Seite froh, dass der Status quo in Kasachstan erhalten wurde. Auf der anderen Seite will die EU nicht, dass Russland seine Position in der Region ausbaut. Und sie suchen einen weiteren Anlass, um auf Russland Druck auszuüben.

Viele westliche Medien haben ausführlich über die Flüchtlingskrise in Belarus berichtet. Über die Ereignisse in Kasachstan wird dagegen sehr wenig berichtet. Was ist der Grund?

Clare Daly: Belarus steht aus westlicher Sicht unter russischer Kontrolle. Zu Belarus hat die EU nicht so starke Wirtschaftsbeziehungen wie zu Kasachstan. In Kasachstan aber hat der Westen starke wirtschaftliche Interessen. Die internationalen Unternehmen haben massiv von den kasachischen Bodenschätzen profitiert und der Westen will das Land in ruhigem Fahrwasser halten.

veröffentlicht in: Telepolis

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