"Jede humanitäre Organisation muss sich heute die Frage stellen: Ist Hilfe überhaupt noch möglich?“ (Globalbridge.ch)

07. Juni 2025 Von: Ulrich Heydenin Allgemein, Politik, Wirtschaft
Am 27. Mai gab es – initiiert vom Bundesjustizministerium – in Berlin und Brandenburg Hausdurchsuchungen bei Mitgliedern und Unterstützern des Vereins Friedensbrücke-Kriegsopferhilfe. Man suchte Beweismaterial für den Vorwurf der Unterstützung der Volksrepubliken Donezk und Lugansk. Diese Regionen wurden vom Generalbundesanwalt rückwirkend als „terroristische Gebiete“ eingestuft. Gegen die Vereins-Gründerin und Vorsitzende Liane Kilinc und den Vereinsunterstützer Klaus Koch – beide leben seit mehreren Jahren in Moskau – wurden Haftbefehle erlassen. Über die Folgen dieser Maßnahmen sprach Ulrich Heyden am 4. Juni in Moskau mit Liane Kilinc.
Ulrich Heyden: Was haben Sie Ende Mai genau erlebt? Das war ja wohl eine der härtesten Wochen für Sie.
Liane Kilinc: Jein. Es gab auch schon andere harte Zeiten (lacht). Wenn man die letzten drei Jahre oder generell die letzten zehn Jahre betrachtet, war alles nicht wirklich leicht. Es gab viele Hürden und es lagen viele Steine im Weg. Ob das jetzt in Deutschland war oder bei der humanitären Hilfe vor Ort. Man könnte es jetzt runterzählen, wie viele gefährliche Situationen es da gab.
Die letzte Woche im Mai war – ich würde sagen – keine Überraschung. Ich hatte schon vor zwei Jahren in einem Interview gesagt, dass man den Paragraphen 129 b im Blick haben sollte. Wenn es der Regierung beliebt, wird sie ihn aus irgendwelchen Gründen auch anwenden.
U.H.: Was war der Auslöser der Durchsuchungen, die am 27. Mai in Berlin und Brandenburg stattfanden?
Liane Kilinc: Der Auslöser war der vom Bundesgerichtshof schon am 16. Januar gefasste Beschluss, wegen „des Verdachts der Unterstützung terroristischer Vereinigungen im Ausland (Volksrepubliken Donezk und Lugansk)“ Hausdurchsuchungen durchzuführen.
Unserem Verein „Friedensbrücke-Kriegsopferhilfe“ wird nach Paragraph 129 b – Unterstützung von Terrorismus im Ausland – der Vorwurf gemacht, dass wir die Volksrepubliken in der Zeit vom Februar bis Oktober 2022 unterstützt haben, also in der Zeit, als die russische Spezialoperation begann und diese Gebiete noch nicht zu Russland gehörten.
Am 6. Oktober 2022 vereinigten sich die Volksrepubliken per Referendum mit Russland. Der Beschluss, uns wegen dieser Zusammenarbeit mit den Volksrepubliken strafrechtlich relevant zu verurteilen, wurde aber erst am 16. Januar 2025 gefällt. Das ist total irre. Denn es handelt sich um eine rückwirkende Verurteilung.
In diesem Zusammenhang möchte ich erwähnen, dass der damalige Justizminister Marco Buschmann dem Generalbundesanwalt im April 2024 eine Verfolgungsermächtigung für den Russlanddeutschen Dieter S. nach Paragraph 129 b erteilte. Buschmann warf dem Mann, der in Bayern verhaftet wurde, die „Mitgliedschaft in einer terroristischen Vereinigung“ vor. Er wurde wie auch zwei weitere Russlanddeutsche wegen vermeintlicher Spionage für Russland am Truppenübungsplatz Grafenwöhr festgenommen und vor Gericht gestellt. Dieter S. hatte 2014 und 2015 für die Milizen im Donbass gekämpft. Er sollte also rückwirkend verurteilt werden.
U.H.: Welche Folgen hat das Verfahren gegen den Verein Friedensbrücke-Kriegsopferhilfe?
Liane Kilinc: Wenn man versucht, das nochmal einfach zu erklären, dann ist jetzt jeder Bürger, der in diesen Republiken lebt, ein Arzt oder Berufskraftfahrer, ein Kind, welches dort geboren wird und dort zur Schule geht, ein Terrorist. Das ist das total Verrückte.
Das zweite total Verrückte ist die Rückwirkung des Beschlusses. Wir haben die humanitäre Hilfe im Donbass ab Januar 2015 geleistet. Wie sollte man 2015 wissen, dass es 2024 einen Beschluss geben wird, nachdem die Volksrepublik Donezk eine terroristische Vereinigung ist?
Außerdem stellt sich natürlich die Frage, welche Bedeutung diese Einstufung der Volksrepubliken für humanitäre Hilfe generell hat. Die politische Situation in Deutschland kann sich ja ändern und man kann sagen, nein, heute sind die Donbass-Republiken nicht mehr terroristisch, sondern andere Gebiete. Heute muss sich praktisch jede humanitäre Organisation – ob groß oder klein, ob das Deutsche Rote Kreuz oder die Friedensbrücke – die Frage stellen, wo ist denn dann überhaupt noch humanitäre Hilfe möglich. Wir sind doch keine Hellseher, oder?
U.H.: Die Argumentation der Bundesanwaltschaft ist, dass humanitäre Hilfe die Kämpfer der Volksrepubliken Donezk und Lugansk motiviert. Was sagen Sie dazu?
Liane Kilinc: Diese Begründung würde die Aussage von Putin stärken, der gesagt hat, im Donbass droht ein Genozid an der Bevölkerung. Das war übrigens die Begründung für die russische Spezialoperation. Im Grunde bedeutet diese Argumentation der Bundesanwaltschaft, damit die Position der Kämpfer in den Volksrepubliken nicht gestärkt wird, kann die Bevölkerung ruhig verhungern.
U.H.: Welche Folgen haben die Durchsuchungen und Haftbefehle?
Liane Kilinc: Ich bin noch gar nicht davon überzeugt, dass es darum geht, humanitäre Hilfe zu blockieren. Denn die humanitäre Hilfe ist ja gesichert durch die UNO-Charta und die Genfer Konventionen, nach der humanitäre Hilfe in Kriegsgebiete nicht behindert werden darf. Und daran hat sich auch eine Bundesregierung zu halten.
Ich denke, das Ziel ist ein anderes. Es geht um die Berichterstattung vor Ort. Wie leben die Menschen in den Volksrepubliken, wer schießt auf wen? Darüber berichten die Menschen ja. Man will einfach die acht Jahre von 2014 bis 2022 verschweigen, indem man sie aus dem Kontext, aus der Geschichte rausnimmt. Man konzentriert sich nur noch auf das Jahr 2022 und verschweigt die Vorgeschichte.
Ich war jetzt jeden Monat einmal im Donbass und auch in den Gebieten Saporischschja und Cherson. Dort erzählen die Menschen, unter welchen Umständen sie geflüchtet sind, wie sie angekommen sind, welche Verluste sie hatten und welche Verbrechen die ukrainischen Streitkräfte und ukrainischen Nazis begangen haben. Die Leute haben erzählt, dass sie „in die falsche Richtung“ gelaufen sind und man ihnen in den Rücken schoss. Sie haben die Leute mit Drohnen vernichtet. Das soll nicht berichtet werden.
Außerdem geht es bei den Maßnahmen gegen uns um Entsolidarisierung. Es soll keine Solidarität entstehen. Denn unsere humanitäre Hilfe sei für die die „falschen Menschen“ und die „falsche Region“. Man will erreichen, dass die Menschen Angst haben zu spenden.
Ein weiterer Punkt ist, dass man die gesamte Friedensbewegung, alle, die noch gegen Krieg sind, mundtot machen will. So im Sinne von: Schaut her, so wird es euch ergehen, wenn ihr euch nicht unserer Linie anpasst. Wer mit der Ukraine nicht solidarisch ist, wird zum Feind erklärt.
Die Maßnahmen gegen uns gehören zu den letzten Kriegsvorbereitungen. Man versucht, das Hinterland politisch zu säubern, damit dann keiner mehr da ist, der den Mund aufmacht, wenn es heißt, wir marschieren wieder gen Osten, gegen Russland.
Es gibt zwar den Beschluss, dass der Verein Friedensbrücke „terroristische Regionen“ unterstützt, aber der Verein Friedensbrücke wurde nicht verboten. Aus jetziger Sicht können wir die Hilfe einfach weiterführen.
U.H.: Die Hilfe geht weiter?
Liane Kilinc: Es muss jetzt jeder entscheiden, ob er weiter mit uns geht.
U.H.: Kann man noch spenden?
Liane Kilinc: Ja, selbstverständlich. Der nächste Transport ist geplant. Hilfe vor Ort ist geplant. Ich werde demnächst in die Gebiete Saparoschschja und Cherson reisen und dort Hilfe organisieren.
Einige Menschen in Deutschland werden wegen der Ereignisse der letzten Woche verunsichert sein. Aber ich kann sagen, dass die Solidarität mit uns enorm war und mich schon fast überrascht hat. Ein Zurückweichen habe ich nicht feststellen können.
U.H.: Woran haben Sie das festgemacht?
Liane Kilinc: An Solidaritätsbekundungen, an Texten in Medien. Also es kam aus ganz vielen Ecken. Dann die Reaktionen über E-Mails und Telegram.
U.H.: Auf der Website von Friedensbrücke wird man weiter informiert?
Liane Kilinc: Ja.
U.H.: Werden Sie juristische Maßnahmen einleiten?
Liane Kilinc: Wir werden in vielerlei Hinsicht Maßnahmen ergreifen. Zum einen werden wir in Richtung UN-Sicherheitsrat gehen. Auch wenn wir wissen, dass da gerade mit Annalena Baerbock die Falsche gewählt wurde. Wir werden die Frage stellen: Was ist mit der humanitären Hilfe in Kriegsgebieten? Wenn heute im Nachhinein Gebiete zu terroristischen erklärt werden, wo ist dann heute überhaupt noch humanitäre Hilfe möglich? Dabei ist völlig unwichtig, um welche Region und um welche Organisation es geht. Die Frage stellt sich für humanitäre Hilfe insgesamt.
U.H.: Was passierte genau am 27. Mai 2025 in Berlin und Brandenburg?
Liane Kilinc: Ich möchte eigentlich nicht darauf eingehen. Denn es stand eigentlich schon in den Zeitungen. Bei Details gab es allerdings Falschinformationen.
Wie lief es ab? Morgens um sechs wurden Häuser und Räumlichkeiten von zwanzig Schwerbewaffneten gestürmt. Sie kamen mit Zivilfahrzeugen. Eine ganze Straße wurde abgesperrt. Sie haben Handys und Computer und die gesamten Vereinsordner mitgenommen.
Theoretisch haben wir gar keinen Beleg mehr. Das finde ich schon ein Unding, aber es dürfte uns nicht wirklich interessieren, weil, es gibt ja die Bescheinigungen des Finanzamtes. Die letzte war von 2020. Damals wurden wir bis 2024 von Prüfungen freigestellt. Bis dahin wurden wir jedes Jahr geprüft. Wegen hervorragender Abrechnungen wurden wir über einen längeren Zeitraum freigestellt. Es wurde gesagt, wir prüfen jetzt nur noch alle fünf Jahre. Es hieß: ´Bei euch ist alles schön.´
U.H.: Im April 2022 wurde Ihrem Verein die Gemeinnützigkeit entzogen. Wie kam das?
Liane Kilinc: Im April 2022 wurde auf drei Internetplattformen ein Bild publiziert, wo ein „Z“ – das Zeichen der russischen Spezialoperation – auf einem LKW zu sehen war, mit dem unsere Hilfe von Moskau in den Donbass transportiert wurde. Uns wurde deshalb 2022 die Gemeinnützigkeit entzogen. Der LKW stand in Moskau, wo er beladen wurde.
Wir brauchen russische Partner, um die humanitäre Hilfe zu gewährleisten. Die Fahrzeuge für den Transport werden gemietet. Es gab nur wenige, die bereit waren, diese Fahrten zu machen. Das hatte versicherungstechnische Gründe. Die LKWs waren in den Kriegsgebieten nicht versichert. Ich kann dem Fahrer des gemieteten LKWs nicht sagen, mach mal dein „Z“ ab. In Russland ist das Zeichen nicht verboten. Wie kann man es uns dann in Deutschland zur Last legen?
U.H.: Der Beschluss des Bundesgerichtshofes, sie zu verhaften und Hausdurchsuchungen durchzuführen, trägt das Datum 16. Januar 2025. Warum wurde dieser Beschluss erst am 27. Mai 2025 umgesetzt?
Liane Kilinc: Ich kenne den Grund nicht. Aber sie werden sich etwas dabei gedacht haben. Der Haftbefehl gegen Klaus K. ist übrigens erst vom 13. Mai. Also nochmal ein anderes Datum. Es kann damit zusammenhängen, dass eine neue Bundesregierung ihre Arbeit aufgenommen hat.
U.H.: In dem Beschluss des Generalbundesanwaltes steht, dass Sie und Klaus K. aus der gleichen Gegend kommen …
Liane Kilinc: Ja, wir sind beide ehemalige DDR- Bürger. Es steht drin, dass wir „die gleiche Herkunft“ haben. Das ist schon eine sehr merkwürdige Ausdrucksweise. Man könnte sie fast rassistisch nennen. Wir sind beide aktiv in verschiedene Organisationen. Und wir waren zum Beispiel aktiv zum Zwei-plus-vier-Vertrag. Dieser Vertrag wurde von Deutschland verletzt.
Wir haben wegen dieser Verletzungen im November 2023 in Moskau das „Nationalkomitee Freies Deutschland“ gegründet. Die Vereinigung steht in der Tradition des NKFD. Es wurde 1943 nach der Schlacht von Stalingrad gegründet.
Der Zwei-plus-vier-Vertrag war Grundlage für die sogenannte Wiedervereinigung Deutschlands. Nach dem Zwei-plus-vier-Vertrag hätte es keine NATO-Osterweiterung geben dürfen, keine Militärtransporte über ehemaliges DDR-Gebiet und auch keinen neuen NATO-Stützpunkt in Rostock. Auch der Jugoslawien-Krieg, an dem Deutschland beteiligt war, war eine Verletzung des Zwei-plus-vier-Vertrages.
Aus diesem Grund könnte man sagen, dass der Einigungsvertrag zwischen der BRD und der DDR keine Rechtsgrundlage mehr hat. Aber das müssen dann andere klären. Vielleicht wird ja Russland den Vertrag einseitig kündigen. Auf jeden Fall möchte ich meine Heimat zurückhaben. Und natürlich möchte ich ein antifaschistisches, friedliches, souveränes Deutschland, was Völkerfreundschaft mit allen Ländern dieser Erde pflegt.
U.H.: Im April 2025 wurde Ihnen die russische Staatsbürgerschaft verliehen. In russischen Zeitungen wurde diese Verleihung unter Überschriften bekanntgegeben, „der deutschen Antifaschistin Liane Kilinc wurde die russische Staatsbürgerschaft verliehen.“ Was war es für Sie für ein Gefühl, dieses Dokument zu bekommen?
Liane Kilinc: Es war ein solidarischer, antifaschistischer Akt von Wladimir Putin. Ich habe eine Art Schutzstatus bekommen. Es war eine Anerkennung für die zehn Jahre dauernde humanitäre Hilfe für den Donbass und den Kampf gegen den Faschismus, der über die NATO und die USA als Stellvertreterkrieg in der Ukraine geführt wird. Dieser Krieg zwang Russland zu handeln und seine Bürger zu schützen. Es war auch ein Akt des Internationalismus in dem Sinne, dass Menschen unterstützt werden, die den Menschen im Donbass helfen.
(Red.) Siehe zum Verein «Friedensbrücke – Kriegsopferhilfe» auch diesen Bericht: «Ein Stück Menschlichkeit aus Deutschland».
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