»Kampf verschiedener Kremltürme« (Junge Welt)
Von Ulrich Heyden, Moskau
Am 13. Februar verschärfte ein Militärberufungsgericht im Ort Wlassicha bei Moskau ein im Dezember gefälltes Urteil gegen den Soziologen Boris Kagarlizki. Der 65jährige wurde wegen »Unterstützung von Terrorismus« zu fünf Jahren Haft verurteilt. Das Gericht hob damit ein Urteil vom Dezember auf, nach dem Kagarlizki nach vier Monaten Haft freigelassen, aber zu einer Geldstrafe von umgerechnet 6.000 Euro verpflichtet worden war. Der Staatsanwalt war der Auffassung, dies sei »zu schwach« gewesen. Der Angeklagte habe nicht mit den Behörden zusammengearbeitet. Seine Strafe könne er nicht bezahlen. Doch dem war nicht so. Er hatte den Betrag dank Spenden noch vor dem 13. Februar beglichen.
Kagarlizki erklärte nach dem Urteil: »Es wird alles gut. Wir müssen nur diese düstere Zeit durchstehen.« In dem Moskauer Gefängnis, in das man ihn aus dem Gerichtssaal heraus einliefere, werde er Material für ein Buch über den Knastalltag sammeln. In einem wenige Tage vor dem Urteil des Berufungsgerichts aufgenommenen Videointerview hatte der Soziologe erklärt, der Grund für die unterschiedlichen Gerichtsurteile sei ein »Kampf verschiedener Kremltürme«.
Kagarlizki hatte Anfang der 2000er Jahre die Internetzeitung Rabkor gegründet. Der marxistische Soziologe ist durch zahlreiche Veröffentlichungen zur Geschichte Russlands und linker Theorie weltweit bekannt. Zum Berufungsverfahren erschien er mit einer Reisetasche, die eine Wasserflasche und andere Dinge enthielt, die bei einem Gefängnisaufenthalt nützlich sind. Aktivisten aus dem Umkreis von Rabkor erklärten nach der Urteilsverkündung am 13. Februar in einem Videostream, der Kreml habe offenbar gehofft, dass Kagarlizki nach seiner Freilassung im Dezember in ein westliches Land ausreise. Denn das Urteil vom Dezember untersagte ihm, zwei Jahre lang Rabkor-Herausgeber zu sein. Kagarlizki blieb aber nach seiner Freilassung in diversen russischen Internetkanälen präsent.
Das juristische Vorgehen gegen Boris Kagarlizki hatte im Juli 2023 begonnen. Der Soziologe wurde wegen »Unterstützung von Terrorismus« zu einer Haftstrafe verurteilt. Der Grund war eine Überschrift für ein Video, das Kagarlizki im Oktober 2022 auf dem Rabkor-Youtube-Kanal veröffentlicht hatte. Darin ging es um den ukrainischen Bombenanschlag auf die Krimbrücke am 8. Oktober 2022. Die Überschrift lautete: »Explosive Glückwünsche vom Kater Mostik«. Der Verteidiger Kagarlizkis bezeichnete dies als »unglücklichen Scherz«. Kagarlizki erklärte, mit der Überschrift habe er nur Aufmerksamkeit erregen wollen.
Die inkriminierte Überschrift bezog sich offenbar auf Putins Geburtstag am 7. Oktober und einen Kater, den die Bauarbeiter der Krimbrücke als ihr Maskottchen gefüttert und dem sie den Namen »Mostik« (von »Most«, deutsch: »Brücke«) gegeben hatten. Merkwürdig war, dass nach der Veröffentlichung des Videos zehn Monate ins Land zogen, bis es zu der Verhaftung kam. In dem Strafprozess ging es nach Schilderungen des Angeklagten auch nicht um das Video, sondern nur um die beiden Worte »explosive Glückwünsche«.
2014 hatte der Soziologe noch die Aufständischen in der Ostukraine unterstützt. Zum russischen Einmarsch in die Ukraine nahm er jedoch eine kritische Position ein. 2022 wurde er als »ausländischer Agent« gelistet. Begründet wurde dies damit, dass Kagarlizki im Rahmen von Projekten mit der Rosa-Luxemburg-Stiftung in Moskau Geld aus Deutschland bekommen hat. Im August 2023 wurde der Soziologe von der Überwachungsbehörde Roskomnadsor als »Extremist« und »Terrorist« eingestuft.
Der kremlnahe Politologe Sergej Markow, der bereits das erste Urteil kritisiert hatte, bezeichnete den Berufungsentscheid gegen Kagarlizki als »schweren Schlag gegen Russlands Position in der Welt«. Der Soziologe sei einer der wenigen in der Welt bekannten Marxisten aus Russland. Marxisten würden »in ihrer Mehrheit« Russland unterstützen. Kagarlizki sei »kein Extremist und Terrorist. Manchmal redet er ein bisschen Unsinn. Alle klugen Leute reden mitunter Unsinn. So könnte man alle klugen Leute einsperren.«
veröffentlicht in: Junge Welt