25. June 2020

Kirgistan: Armut und Instabilität in der „Schweiz Zentralasiens“

25. Juni 2020 um 13:01 Ein Artikel von Ulrich Heyden | Verantwortlicher: Redaktion

Der ehemalige Präsident von Kirgistan, Almasbek Atambajew, wurde wegen Korruption zu elf Jahren Gefängnis verurteilt. Die Verarmung in Kirgistan führt zu sozialen Protesten, dabei hätte Kirgistan genug, um seine Bürger zu ernähren. Das Land ist reich an Bodenschätzen und hat ein großes touristisches Potential. Doch die von neoliberalen westlichen Beratern empfohlene Entstaatlichung Kirgistans führte nicht zu Wohlstand, sondern zu Armut und einer Herrschaft neuer Oligarchen. Aus Moskau berichtet Ulrich Heyden.

Am Dienstag hat das Perwomaiski-Gericht in der kirgisischen Hauptstadt Bischkek den ehemaligen Präsidenten von Kirgistan, Almasbek Atambajew, wegen Korruption 
zu elf Jahren und zwei Monaten Haft verurteilt. Seine staatlichen Auszeichnungen wurden dem ehemaligen Präsidenten aberkannt und sein Eigentum eingezogen. Zu dem Eigentum gehören ein Medienunternehmen, ein Fernsehkanal, eine Fabrik und Wertpapiere in kirgisischen Banken.

Ankläger: Beihilfe bei der Freilassung einer kriminellen „Autorität“

Atambajew, der von 2011 bis 2017 Präsident Kirgistans war, wird vorgeworfen, er habe über Korruption die Freilassung des bekannten Kriminellen Asis Batukajew ermöglicht. Atambajew hat die Vorwürfe gegen ihn als „politisch motiviert“ zurückgewiesen. Seine Anwälte wollen das Urteil anfechten.

Der Angeklagte hatte das Schlusswort im Prozess gegen ihn verweigert. Atambajew war der Verhandlung mehrere Male ferngeblieben. Das Strafverfahren gegen ihn bezeichnete er als ein „von der Macht gesteuertes“ Verfahren.

Wegen der Freilassung der kriminellen „Autorität“ Batukajew waren 2019 auch der frühere Vizepremier Schamil Atachanow und die ehemalige Gesundheitsministerin Dinara Saginbajewa verhaftet worden. Sie und andere hohe Beamte wurden jetzt von dem Gericht in Bischkek zu Geld- und Hausarrest-Strafen verurteilt.

Nach Tschetschenien übergesiedelt

Der Kriminelle Batukajew war 2006 wegen der Organisierung eines Aufstandes in einem Gefängnis in einer Vorstadt von Bischkek zu 16 Jahren Haft verurteilt worden. 2013 wurde Batukajew auf Bewährung freigelassen. Hohe Beamte des Gesundheitsministeriums hatten bei Batukajew Blutkrebs diagnostiziert. Die Diagnose war nach Meinung des Gerichts gefälscht.

Wenige Stunden nach seiner Freilassung bekam Batukajew einen neuen Pass, worauf er in die russische Kaukasusrepublik Tschetschenien übersiedelte.

Sturm auf die Villa von Ex-Präsident Atambajew

Der jetzt wegen Begünstigung eines Kriminellen verurteilte ehemalige Präsident von Kirgistan, Atambajew, wurde am 9. August 2019 verhaftet. Das war nicht einfach gewesen, denn Atambajew hatte sich in seiner Villa verschanzt, wie dieses Video zeigt. Es war zu Schießereien mit den Sicherheitskräften gekommen. Hunderte von Dorfeinwohnern hatten um die Villa von Atambajew Barrikaden gebaut, um die Verhaftung zu verhindern. 130 Menschen wurden bei den Auseinandersetzungen verletzt.

Um Unterstützung bei Putin nachgesucht

Der jetzt verurteilte Atambajew wurde 1956 im kirgisischen Dorf Araschan geboren. Am Moskauer Institut für Verwaltung absolvierte er 1980 eine Ausbildung als Ingenieur. 1989 wurde Atambajew Unternehmer. Nach der kirgisischen „Tulpenrevolution“ 2005 wurde er Minister für Industrie. Viele Jahre war Atambajew Leiter der Sozialdemokratischen Partei von Kirgistan. Vor seiner Verhaftung hatte er noch in Moskau Putin besucht und offenbar um Rückdeckung wegen eines Strafverfahrens gehofft. Doch der Kreml hatte schon gute Beziehungen zu dem neuen Präsidenten Kirgistans, Sooronbaj Dscheenbekow, aufgebaut.

Die Rolle der westlichen Berater

In Kirgistan gab es seit 2005 schwere politische Erschütterungen. Die „Tulpenrevolution“ jagte den Präsidenten Askar Akajew aus dem Land. Der Physikprofessor hatte das Land seit 1991 regiert und fand ein Exil in Moskau.

Durch die Tulpenrevolution bekam der Ingenieur Kurmanbek Bakijew das Amt des Präsidenten. Doch auch dieser Präsident wurde im April 2010 wegen Vetternwirtschaft und offenbar gefälschter Präsidentschaftswahlen im Zuge einer Straßenrevolte gestürzt. Bakijew flüchtete nach Weißrussland.

Im Juni 2010 kam es im Süden von Kirgistan zu schweren Auseinandersetzungen zwischen Kirgisen und der ethnischen Minderheit der Usbeken. Hunderte Menschen kamen dabei ums Leben. Hunderttausende Usbeken flüchteten aus Kirgistan nach Usbekistan. Warum die Polizei diese Unruhen nicht verhinderte und ob es politische Drahtzieher gab, ist bis heute nicht geklärt.

„Humanitäre Katastrophe“

Soviel ist sicher: Die Verarmung in Kirgistan führt zu sozialen Protesten und Revolten. Dabei hätte Kirgistan genug, um seine Bürger zu ernähren. Das Land ist reich an Bodenschätzen – Gold, Uran, seltene Metalle – und hat ein großes touristisches Potential. Doch die von neoliberalen westlichen Beratern empfohlene Entstaatlichung Kirgistans führte nicht zu Wohlstand, sondern zu Armut und einer Herrschaft neuer Oligarchen.

Westliche Medien und Berater, die in Kirgistan seit 1991 sehr aktiv waren, priesen das zentralasiatische Land als die „Schweiz Zentralasiens“. Derartige Lobpreisungen kamen etwa von dem schwedischen Ökonomen Anders Aslund. Er ist Mitglied des Atlantic Council und hat seit 1991 die Regierungen von Russland, der Ukraine und Kirgistan beraten. In einem Jubel-Aufsatz für die Moscow Times schrieb Aslund 2010: „Kirgistan ist eines der attraktivsten post-sowjetischen Länder und das einzige Land Zentralasiens, welches frei ist. Die Bevölkerung ist warmherzig und gut ausgebildet, die Zivilgesellschaft und die Offenheit entwickeln sich so wie nirgends sonst in der früheren Sowjetunion.“ Es gäbe zwar eine hohe Korruption, aber die lasse sich mit dem konsequenten Aufbau demokratischer Strukturen stoppen. Vorbild sei der Präsident von Georgien, Michail Saakaschwili.

Stromabschaltungen trotz Wasserkraftwerken

Der Politologe Nur Omarow von der Kirgisisch-Russischen Universität in Bischkek zeigte ein völlig anderes Bild. Schon seit 2007 herrschte in Kirgistan eine „humanitäre Katastrophe“, schrieb der Wissenschaftler im Februar 2009 in einem Aufsatz für die Zentralasien-Nachrichten. Eine Million Menschen litten unter Lebensmittelknappheit. Weil illegal viel Strom abgezweigt wird und die Korruption ein Übriges tut, musste die Bevölkerung 2008 täglich bis zu zwölfstündige Stromabschaltungen hinnehmen. Und das, obwohl Kirgistan zahlreiche Wasserkraftwerke hat.

Der Westen hat mit Wirtschaftshilfe und Beratern für das kleine Land am Pamir-Gebirge nicht gegeizt. „Kirgistan erhielt die höchste internationale Hilfe pro Kopf der Bevölkerung in Zentralasien“, heißt es in einer Studie der Bertelsmann-Stiftung von 2009. Kirgistan wurde zum Vorzeige-Staat für den besonders schnellen Ritt zur Marktwirtschaft. 1998 wurde das Land Mitglied der Welthandelsorganisation (WTO). Der Beitritt führte zum „nachhaltigen Abbau nationaler Produktionsstrukturen“, stellt die Studie nüchtern fest.

„Bereicherung einer kleinen Oberschicht“

Es hätte heißen müssen, die Schocktherapie der westlichen Berater überlebte die Bevölkerung nur durch die Bestellung der eigenen, kleinen Gärten und Äcker. Das kleine Land, das an Flüssen, Weiden und Äckern so reich ist, kann seine Bürger heute nicht ernähren. Die Privatisierung habe zur „Bereicherung einer kleinen Oberschicht“ geführt, heißt es in der Bertelsmann-Studie von 2009.

Die Konrad-Adenauer-Stiftung fragte 2019 in einer Studie, „ob die Demokratie in Kirgisistan überschätzt wurde? Nur die Tatsache allein, dass im Land Wahlen und regelmäßige Machtwechsel stattfinden, macht es noch nicht zu einer funktionierenden Demokratie. Denn wie die jüngere kirgisische Vergangenheit zeigt, brachten Revolutionen und Machtwechsel regelmäßig antidemokratische Persönlichkeiten an die Spitze des Staates.“ Korruption und Islamismus in Kirgistan nähmen zu. Die kirgisische „Vorzeigedemokratie“ sei wohl „nicht mehr als ein Demokratieprojekt gewesen“. Was der Westen nun eigentlich Positives in Kirgistan erreicht hat, sagt die Studie nicht.

Goldmine in der Hand einer kanadischen Firma

Trotz des politischen Chaos in Kirgistan: Eine westliche Firma hat einen Nutzen. Die kirgisische Goldmine Kumtor wird von der kanadischen Firma Centerra Gold betrieben. Die Mine trägt heute 40 Prozent des kirgisischen Exports.

Gegen die Mine gibt es immer wieder Proteste und Blockaden. Arbeiter und Anwohner forderten die Verstaatlichung der Mine, höhere soziale Leistungen und Infrastrukturmaßnahmen, doch ohne Erfolg.

Lebenswichtig für die Menschen in Kirgistan sind die Einkommen der kirgisischen Arbeitsmigranten in Russland. In Kirgistan leben heute 6,2 Millionen Menschen. 650.000 Kirgisen – also etwa zehn Prozent der Bevölkerung – arbeiteten 2018 als Arbeitsmigranten in Russland.

Der Westen fühlt sich unschuldig

Russische Beobachter befürchten nun, dass das Urteil gegen den ehemaligen kirgisischen Präsidenten Atambajew von politischen Kräften genutzt werden könne, um Spannungen zu schüren.

Der Westen ist schockiert von den Entwicklungen in Kirgistan, sieht sich aber in keiner Weise mitschuldig, dass die „Schweiz Zentralasiens“ zum ärmsten Land der Region wurde.

Ulrich Heyden

veröffentlicht in: Nachdenkseiten

 

 

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