Die Abstimmung über die Verfassungsänderungen hatte bereits am 25. Juni begonnen. Durch die zeitliche Streckung des Abstimmungsprozesses über mehrere Tage sollte die Gefahr einer Corona-Infektion minimiert werden. Der letzte Tag der Abstimmung, der 1. Juli, war ein arbeitsfreier Tag.
Am Eingang der Schule hängen Luftballons in den russischen Farben. Aus Lautsprechern hört man flotte russische Schlager. Auf einem Tisch am Eingang des Wahllokals liegen Geschenke, welche die Wähler mit nach Hause nehmen können, Kugelschreiber, Anstecker und Armbänder sowie Teilnahme-Scheine für eine Lotterie. Wählen gehen ist in Russland seit Sowjetzeiten nicht nur „Bürgerpflicht“, sondern auch ein feierliches Ereignis. Allerdings ist die Feierstimmung aufgrund der Corona-Krise dieses Mal gedämpft.
Bürger aller Altersgruppen kamen zur Abstimmung
Wahlbeteiligung knapp über 50 Prozent
Penibel wurden im Wahllokal Nr. 2883 Daten überprüft. Die Bürger gingen zu den Tischen, wo die Listen für bestimmte Straßen auslagen. Man musste seinen Pass vorzeigen und nach Erhalt des Wahlzettels in der Wählerliste unterschreiben.
Es ist nicht so, wie die ARD-Korrespondentin Ina Ruck über eine ältere Wählerin berichtete, „einmal kurz den Pass zeigen und dann darf sie auch schon wählen. Genauer überprüft wird sie nicht.“
Der Leiter des Wahllokals Nr. 2883, Igor Kudinow, berichtet, dass am letzten Tag der Wahl, vier Stunden vor der Schließung des Wahllokals, 224 Bürger per Wahlzettel abgestimmt haben. Elf Personen haben aus gesundheitlichen Gründen zuhause abgestimmt. Ihre Stimmen wurden in kleinen Wahlboxen in das Wahllokal gebracht.
Mehrere Beobachter der russischen Gesellschaftskammer überwachten die Abstimmung. Sie bekommen für ihre Arbeit ein Honorar. Der Leiter des Wahllokals berichtet, dass vier Stunden vor der Schließung des Wahllokals Nr. 2883 von 2.327 Abstimmungsberechtigten 852 mit dem Stimmzettel abgestimmt haben. 353 Menschen haben per Internet abgestimmt.
In der großen Wahlurne aus durchsichtigem Plastik ist der Boden zwanzig Zentimeter dick mit Wahlzetteln bedeckt. Sie sind nicht zusammengefaltet und ich sehe deutlich mehrere Nein-Stimmen.
Mich verwundert das nicht. Bereits am 29. Juni hatte das Meinungsforschungsinstitut WZIOM aufgrund von Nachwahlbefragungen mitgeteilt, 76 Prozent der Abstimmenden hätten für und 23,6 Prozent gegen die Verfassungsänderungen gestimmt.
Verfassungs-Referendum – Registrierung im Moskauer Wahllokal Nr. 2883
Motive für eine Nein-Stimme
Die Motive für eine Nein-Stimme können unterschiedlich sein. Manche ärgern sich darüber, dass die über 100 Verfassungsänderungen im Paket abgestimmt werden. Manche wollen Putin nicht noch einmal als Präsident sehen. Auch diese Meinung muss man akzeptieren.
Viele ärgern sich auch, dass bei angenommener Verfassungsänderung die Amtszeiten von Putin neu gezählt werden und der jetzige Präsident bei den nächsten beiden Präsidentschaftswahlen noch einmal kandidieren und faktisch bis 2036 regieren kann.
Allerdings – und das wird in den westlichen Medien gerne verschwiegen – hat Putin mehrmals erklärt, dass es noch nicht sicher sei, ob er bei den nächsten Präsidentschaftswahlen 2024 überhaupt antrete. Wenn er jetzt schon mitteile, dass er nicht antritt, sei er eine „lahme Ente“. Dieses Argument scheint mir einleuchtend. Immerhin steht Russland unter einem seit 1945 nie dagewesenen militärischen und medialen Druck.
„Das Wichtigste ist die Souveränität Russlands“
Vor dem Wahllokal befrage ich einige Wähler, was ihnen bei dieser Abstimmung wichtig ist. „Ich wähle, weil es meine Bürgerpflicht ist“, sagt ein 18-Jähriger. „Das Wichtigste ist für mich die Stärkung der Souveränität Russlands“, sagt eine etwa 40 Jahre alte Buchhalterin. Ein Paar, das in der Versicherungsbranche arbeitet, erklärt, man stimme ab, „damit alles besser wird“. Die beiden erzählen, dass die Bereitschaft, eine Versicherung abzuschließen, stark zurückgegangen ist, da die Leute weniger verdienen oder während der Quarantäne Verdienstausfälle hatten.
Im Wahllokal kam es zu einem kleinen Zwischenfall. Ein Mann beschwerte sich, dass in der Zeile, wo er unterschreiben sollte, schon eine Unterschrift stand. Nach einem längeren erregten Wortwechsel stellte sich heraus, dass jemand, der in der benachbarten Zeile unterschrieben hatte, mit seiner großen Schrift in die Nachbarzeile geraten war. „Ich glaube, der Mann war angetrunken“, meint Wahllokal-Leiter Kudinow. „Ich habe das gerochen.“
Die Abstimmung über die Verfassungsänderungen dauerte eine Woche. Man hat die Abstimmung über mehrere Tage gestreckt und auch die elektronische Abstimmung per Internet möglich gemacht. Damit soll die Gefahr einer Infektion mit dem Corona-Virus gesenkt werden.
Die beiden Kammern des russischen Parlaments – die Duma und der Föderationsrat – hatten die Verfassungsänderungen bereits am 11. März 2020 gebilligt. Geplant war, dass die Verfassungsänderungen am 22. April in einem landesweiten Referendum zur Abstimmung gestellt werden. Doch wegen der Corona-Krise wurde diese Abstimmung verschoben.
Wer wählte, konnte an einer Geschenk-Lotterie teilnehmen
Die Popularität von Putin in Zeiten der Wirtschaftskrise
Nach einer Umfrage des WZIOM-Instituts sind 62 Prozent der Russen mit der Arbeit von Putin als Präsident zufrieden. Im April waren es 65 Prozent. Das westlich orientierte Meinungsforschungsinstitut Lewada hatte dagegen im Mai ermittelt, dass nur noch 25 Prozent der Befragten Wladimir Putin vertrauen. Im November 2017 seien es noch 59 Prozent gewesen. Wie diese unterschiedlichen Zahlen zustande kommen, ist schwer zu sagen. Sicher ist aber, dass es für Putin schwieriger geworden ist, ein hohes Rating zu halten, denn Russland befindet sich in einer Wirtschaftskrise und ein Ende ist nicht abzusehen.
Schon vor der Pandemie lag das Wachstum in Russland bei nur ein Prozent. Die Corona-Krise hat zu Entlassungen und starken Einkommenseinbußen geführt. Wladimir Putin hat zwar während der Corona-Krise zahlreiche finanzielle Unterstützungen vor allem für Familien und Kinder angeordnet, doch mit diesem Geld können die Familien nur die größten Löcher stopfen.
Doch gibt es reale Alternativen? Die Russen wissen über die Medien, dass die wirtschaftliche Situation auch in westlichen Ländern schwierig und in der Ukraine – wo man Russland zeigen wollte, wie eine demokratische Gesellschaft aussieht – sogar katastrophal ist. Die Löhne in der Ukraine liegen weit unter denen in Russland. Oppositionelle in der Ukraine, die es wagen, ihre Meinung auf der Straße kundzutun, leben unter ständiger Lebensgefahr.
Was wird an der Verfassung geändert?
Der Kreml warb mit Video-Clips und zahlreichen Flyern, die man in den Briefkästen im Treppenaufgang der Wohnhäuser fand, für die Verfassungsänderungen. Im Wesentlichen geht es bei den Änderungen um Folgendes:
Protest gegen Verfassungsänderungen vom Ausland gesteuert?
Die Nervosität in den Sicherheitsstrukturen vor der Abstimmung war groß. Der Leiter des russischen Sicherheitsrates und ehemalige FSB-Chef Nikolai Patruschew hat am 10. Juni in einem Interview mit der Zeitung Argumenti i Fakti erklärt, der Westen versuche vor der Abstimmung zu Verfassungsänderungen Proteste in Russland anzustacheln und bediene sich dabei vom Westen finanziell unterstützter Nichtregierungsorganisationen und „unabhängiger Gewerkschaften“. Der Westen plane, den medialen Druck auf Russland zu erhöhen, die Identität des Landes zu zerstören und „die Gesellschaft zu spalten“. Das „strategische Ziel des Westens“ sei „die Organisierung eines Staatsstreichs in Russland“. Deshalb sei es höchste Zeit für die Verfassungsänderungen.
Sicher versucht der Westen, Proteste in Russland zu nutzen, so wie er es auch in der Ukraine gemacht hat. Aber bedeutet das, dass Proteste Russland generell schwächen? Sind die Ursachen von Protest nicht in erster Linie reale Probleme in der russischen Gesellschaft?
Bedenklich stimmte auch, dass das russische Ermittlungskomitee am 4. Juni einen bekannten Kritiker der Verfassungsänderungen, den ehemaligen Diplomaten Nikolai Platoschkin, der im letzten Jahr die Partei „Für einen neuen Sozialismus“ gegründet hatte, wegen eines angeblichen Aufrufs zu Massenunruhen und der Verbreitung „falscher Nachrichten“ zu zwei Monaten Hausarrest verurteilt hatte. Was Platoschkin genau vorgeworfen wird, ist nicht bekannt. Vermutlich war es sein Aufruf zu Kundgebungen gegen die Verfassungsänderungen.
Wer den inneren Zustand von Russland verstehen will, kommt nicht darum herum, sich die Argumente beider Seiten, der Befürworter und der Gegner der Verfassungsänderungen, anzugucken.
Scharf kritisierte Kagarlitsky den Rechtsliberalen Aleksej Navalny, der seine Anhänger zu einem Boykott der Abstimmung aufrief. Damit spiele Navalny der Macht in die Hände, meint der Politologe. Ein Boykott – der sich faktisch nur in Internet-Posts äußere – demonstriere nur die Machtlosigkeit der Opposition. Die Linke müsse die steigende Unzufriedenheit und Proteststimmung im Land nutzen, indem sie sich mit allen Unzufriedenen auch außerhalb der linken Szene vereinige und bei der Abstimmung mit „Nein“ stimmt.
Mit einer gehörigen Portion Skepsis kommentierte Kerstin Kaiser, Büroleiterin der Rosa-Luxemburg-Stiftung in Moskau, die Bedeutung der Abstimmung. Via Facebook erklärte die ehemalige Landtagsabgeordnete aus Brandenburg, „die verschiedensten und widersprüchlichen Änderungen (der Verfassung) sollen möglichst vielen Menschen mehr Stabilität im Lebensalltag versprechen und das fragile Machtgefüge im Staat noch eine Weile sichern. Aber weder die anhaltende ökonomische und soziale, noch die Demokratie- und Vertrauenskrise werden damit gelöst. Die verschiedenen oppositionellen Kräfte (links und rechts vom Präsidenten, inner- oder außerhalb der Duma) sind völlig zersplittert und kamen weder inhaltlich noch taktisch (Boykottieren oder Dagegenstimmen?) auf einen wahrnehmbaren Nenner.“
Bildnachweis: Alle Bilder © Ulrich Heyden
veröffentlicht in: Nachdenkseiten