Mein geliebtes Kaspisches Rotauge
Post aus Moskau
Es war ein gemütlicher Abend in einer russischen Küche. Ich befand mich gerade in Astrachan. Bei Nina, meiner Gastgeberin, gab es Hühnersuppe mit Nudeln. Plötzlich fragte mich die Hausherrin, ob ich einen Wobla probieren wolle.
Wobla – zu deutsch Kaspisches Rotauge – ist ein getrockneter Fisch, etwas größer als eine Männerhand und nicht dicker als ein Ringfinger. Ich hatte den salzigen Wobla schon in Moskau probiert, zum Bier in Künstler-Ateliers oder nach dem Banja-Schwitzbad. Aber einen Wobla direkt an der Fangstelle zu Verspeisen, das wollte ich mir natürlich nicht entgehen lassen.
Der Rutilus caspicus – so der lateinische Fachausdruck für den Wobla – zieht im März aus dem Kaspischen Meer zum Laichen in die Wolga, die zu dieser Zeit noch zugefroren ist. So sieht man im März auf der Wolga bei Astrachan Trauben von Fischern, die auf Klappstühlen durch Eislöcher mit einer kleinen Angel die ersten Woblas fischen. Der kleine Delikatessen-Fisch wird dann mit den Innereien drei Tage in Salzlauge eingelegt und anschließend eine Woche an der frischen Luft getrocknet. Danach kann man das hart gewordene Flossentier, welches zur Familie der Karpfenfische gehört, überall in Russland auf Freiluftmärkten oder an Kiosken kaufen, je nach Größe 25 bis 60 Rubel (1,50 Euro) das Stück.
Nina fragte mich also, ob ich einen Wobla wolle. Meine Augen leuchteten bei diesem Angebot besonders hell, denn ich konnte es kaum erwarten, den eigenartigen Geschmack des Rutilus caspicus zu kosten. Ich bekam die Delikatesse gereicht, und meine Gastgeberin beobachtete, wie ich etwas unentschlossenen den trockenen Fischschwanz abbrach. Nina ging mein Gefinger irgendwie zu langsam. Sie nahm mir das Schuppentier wieder aus der Hand. Den Ausländern muss man aber auch alles zeigen, dachte sie wohl, und brach den silbergrauen Fisch entschlossen in der Mitte durch, sodass es krachte. Nun war es einfacher, die trockene Fischhaut vom Fleisch, das trocken und hart war, abzuziehen.
Wir unterhielten uns über dies und das, und dabei verschwand immer wieder ein Stück des salzigen Fleisches in meinem Mund. Zu meiner Freude fand ich in meinem Wobla auch leuchtend-gelben Rogen. Er war krümelig-trocken und hatte einen intensiven Geschmack. Irgendwann war die Prozedur für mich beendet, und ich schob meinen Teller beiseite. Doch Nina schaute streng auf den kleinen Berg von Haut, Greten und Teilen der Wirbelsäule. Mit unwirschem Gesicht ging meine Gastgeberin wieder in Aktion. In dem, was ich als Abfall hinterlassen hatte, fand Nina noch viele essbare Fischstücke.
Die russischen Männer sind wahre Angel-Fanatiker – an jedem nur möglichen Gewässer. Doch die Jagd nach dem Wobla und anderen Schuppentieren wird nun Schritt für Schritt begrenzt. In Astrachan dürfen Hobby-Angler pro Tag nicht mehr als fünf Kilogramm Fisch angeln. Schon 2010 unterzeichnete Präsident Dmitri Medwedjew ein Gesetz, nach dem der Fischfang zum Teil kostenpflichtig wird. Findige Unternehmer wollen die besten Fangplätze zu Sport-Areals ausbauen und Angellizenzen verkaufen. Nachdem im März 6000 Fangplätze an Flüssen und Seen im ganzen Land an Angelsport-Unternehmen ausgelost wurden, kam es vielerorts zu Protestaktionen.
Medwedjew und Putin kommen diese Proteste kurz vor den Wahlen sehr ungelegen. Nun wollen die beiden das Gesetz so ändern, dass genug freie Plätze für kostenloses Angeln erhalten bleiben.
veröffentlicht in: Sächsische Zeitung