Mit der Gewalt leben lernen
TSCHETSCHENIEN / Die Angst vor Anschlägen und Geiselnahmen hat das Volk nicht gebrochen
Die Menschen haben den Krieg satt: Überall in Grosnij entstehen neue Häuser. Doch dem Kampf auf der Straße entkommt die Bevölkerung nicht.
Als in Beslan das schreckliche Geiseldrama lief, waren auch viele Menschen in Grosnij betroffen. Die Ältesten der Kaukasusrepublik boten sich im Austausch für die Kinder als Geiseln an und verlangten, in die Verhandlungen mit den Terroristen eingeschaltet zu werden. Die moskauhörige Verwaltung der Republik organisierte Protestkundgebungen. In der Universität von Grosnij demonstrierten Studenten und Lehrer für den Frieden. Auf selbst gemalten Plakaten forderten die Studenten: „Hände weg von den jungen Osseten!" Der im Untergrund lebende tschetschenische Ex-Präsident Aslan Maschadow erklärte, wenn man die „moralische Wahrheit" des Freiheitskampfes bewahren wolle, müsse man sich entschieden von denen distanzieren, welchen „das Gefühl der Rache den Verstand verdunkelt" habe.
An den Häuserwänden der zerschossenen Plattenbauten in Grosnij hängen immer noch die großen Wahlplakate von der tschetschenischen Präsidentenwahl. Alle Kandidaten versprachen ihren Wählern vor allem eines: Sicherheit. Auf dem Plakat des Wahlsiegers Alu Alchanow liest man: „Nein zum Krieg. Nein zu den Säuberungen". Die Tschetschenen hoffen, dass der ehemalige Chef der regionalen Eisenbahnpolizei die nächtlichen Aktionen der russischen Sicherheitskräfte und die Entführungen durch maskierte Banden stoppt. Alchanow hat noch nicht zeigen können, ob er wirklich stark ist. Aber viele Menschen hoffen, dass er etwas gegen den gefürchteten „Sicherheitsdienst" des Präsidentensohnes Ramsan Kadyrow tut. Der hält die Tschetschenen mit Entführungen und Lösegelderpressungen in Angst und Schrecken. Alchanow wurde wie sein getöteter Vorgänger - Achmad Kadyrow - von Moskau eingesetzt. Aber immerhin ist er Tschetschene.
Kaputte Infrastruktur
Die Infrastruktur von Grosnij ist immer noch weitgehend zerstört. Es gibt kaum Telefonanschlüsse. Wasser müssen die Bürger von Grosnij selbst in ihre Wohnungen tragen. Die Kanalisation ist brüchig, Abwasser sammelt sich in den Kellern. Die Straßen sind voller Schlaglöcher, Straßenbahnen fahren schon seit zehn Jahren nicht mehr. Zwischen notdürftig instand gesetzten Wohnhäusern wird der Müll verbrannt.
Alu Alchanow, der bisher Innenminister war, hatte vor der Wahl mehr Selbstständigkeit für die Kaukasusrepublik gefordert. Putin hatte zugesagt, dass die Einkünfte aus der tschetschenischen Ölförderung künftig in den Wiederaufbau fließen sollten. Die Entschädigung für zerstörten Wohnraum soll unbürokratischer abgewickelt, die Zahl der Verkaufsstellen für Handys erhöht werden. Alchanow schlug vor, Tschetschenien zu einer steuerfreien Offshore-Zone zu machen. Dazu gibt es aus Moskau noch keine offizielle Antwort. Die russischen Militärs werden die Versprechungen des Kremlchefs mit Argwohn aufgenommen haben. Die Generäle verdienen gut am illegalen Ölgeschäft.
„Schuld an der Zerstörung von Grosnij waren nicht die Tschetschenen, sondern die unüberlegte Politik Moskaus", sagt Chamsat, ein ehemaliger Schmied. Dass der Krieg kein Ende finde, sei Schuld der „Partei des Krieges", einer einflussreichen Gruppe in Moskau. Sie heize den Konflikt in Tschetschenien mit bezahlten Terroristen immer wieder neu an. Wollen die Tschetschenen damit nur die Schmach über das Wüten tschetschenischer Terroristen von ihrem Volk nehmen, oder ist an diesen Gerüchten etwas dran? Trifft denn Aslan Maschadow, unter dessen Regentschaft die Wahhabiten, Söldner und Geiselnehmer in Tschetschenien stark wuchsen, gar keine Schuld? „Maschadow war zu schwach", meint Chamsat. Der ehemalige Sowjetoberst, von dem sich die Wähler Unabhängigkeit und Ordnung versprachen, konnte sich gegen die Radikalen nicht durchsetzen.
Alte Seilschaften
Dass die Wahhabiten und Islamisten unter der Präsidentschaft Maschadows Tschetschenen terrorisieren konnten, sei auch die Schuld der russischen Sicherheitsdienste, hört man in Grosnij immer wieder. Bei dem Überfall auf Dagestan 1999 habe es mehrmals die Chance gegeben, Schamil Bassajew zu fangen. Aber aus unerfindlichen Gründen schnappte die Falle nie zu. „Vielleicht wollen sie ihn gar nicht finden", sagt Chamsat. Seine Stimme senkt sich zu einem vielsagendem Flüstern. Seit Jahren gibt es Gerüchte, dass Bassajew ein doppeltes Spiel spiele. Der ehemalige Komsomol-Funktionär habe Ende der achtziger Jahre noch eine Ausbildung beim russischen Geheimdienst absolviert. Möglicherweise arbeite er immer noch für die russische Seite.
In den Straßencafés im Zentrum sitzen junge Männer bei einer Limonade unter roten Coca-Cola-Schirmen, Frauen mit Kopftüchern eilen zum Markt. Die Straßen sind voller Autos und Minibusse. Doch die Situation kann sich in Sekunden ändern. Die Menschen in Grosnij sind auf alles gefasst. Eine Woche vor der Wahl gab es einen Terrorüberfall von 300 unbekannten Terroristen. Es sei doch klar, wer dahinter stecke. Alle in der Stadt wüssten es: der FSB. Der Rentner tuschelt hinter vorgehaltener Hand: „Du kannst hier nicht offen sprechen. Paff, paff, paff - schon haben sie dich umgelegt." Am 21. August drangen die Terroristen vom Süden her bis zum Zentrum vor. Am Minutka-Platz lieferten sie sich stundenlange Feuergefechte mit tschetschenischen Polizisten. Über 70 Menschen, darunter 40 Ordnungshüter, wurden getötet. Ein Trauertag wurde nicht angeordnet. Das russische Fernsehen schenkte dem Zwischenfall keine Beachtung. Eine Woche vor der Wahl sollte die angeblich stabile Kaukasusrepublik nicht in schlechtem Licht erscheinen.
Die Terrorgruppe zog auch durch den Oktjabrskij-Bezirk. Hier gibt es viele kleine Einfamilienhäuser, umgeben von hohen Metallzäunen und Walnussbäumen. „Wir hörten Maschinengewehrsalven und das Böllern von Granatwerfern", erinnert sich Taissa Dadajewa, die mit ihrer 13-jährigen Nichte Albina, der Schwester Sara und den Großeltern zusammenwohnt. Erst am nächsten Tag erfuhren sie, was passiert war.
Etwa 200 000 Menschen sollen inzwischen wieder in der Stadt wohnen. Doch man lebt auf dem Sprung. „Der Pass liegt immer griffbereit", meint Taissa. Jeden Tag lebe sie in der Erwartung eines neuen Krieges, einer neuen Flucht. Taissa glaubt nicht, dass es Separatisten waren, die die Stadt überfielen. In Grosnij kursieren Gerüchte, dass die „Föderalen" - so nennen die Tschetschenen die russischen Sicherheitsstrukturen - hinter dem Überfall stecken. Die Militärs bräuchten solche Zwischenfälle, um ihre Existenz zu rechtfertigen. Nur so könnten die Generäle weiter verdienen und weitere Stufen auf der Karriereleiter hochklettern. Augenzeugen berichten, dass einige der Terroristen nagelneue Uniformen trugen und akzentfrei russisch sprachen. Die russische Armee griff während des mehrstündigen Kampfes nicht ein. Nur die tschetschenischen Polizisten leisteten Widerstand.
Durch das geöffnete Fenster sind Schläge auf Holz zu hören. Ein Arbeiter setzt im wieder aufgebauten Haus der Familie neue Holzfenster ein. Ganz Grosnij ist am Bauen. Auf den Plätzen in der Stadt bieten Lastwagenfahrer ganze Ladungen von roten Ziegelsteinen zum Verkauf an. Ihr Haus haben die Dadajews aus eigenen Mitteln wieder aufgebaut. Im Dezember haben sie die von der russischen Regierung in Aussicht gestellte Entschädigung von 10 000 Dollar beantragt, doch bisher keine Kopeke erhalten. „Vielleicht ist das auch besser so", meint Taissa nachdenklich. „Es spricht sich schnell herum, wenn jemand Geld hat. Dann kann man nicht mehr ruhig schlafen."
Kleine Insel des Friedens
Die Universität ist in ein weniger zerstörtes Viertel umgezogen. Der Campus mit seinen großzügigen Asternbeeten wirkt wie eine kleine Insel des Friedens. Auf den grünen Bänken sitzen Studenten beim Plausch. Asja studiert Germanistik, die beiden Jungen, Wacha und Edi, Informatik und Englisch. Asja wäre gerne Dolmetscherin im tschetschenischen Außenministerium geworden. „Aber noch gibt es das bei uns nicht", sagt sie. Die beiden Jungen wollen Grosnij irgendwann einmal für eine Zusatzausbildung verlassen. Doch zurückkehren wollen sie auf jeden Fall.
Über die Terrorakte der letzten Zeit haben die drei häufig gesprochen. Man ist politisch interessiert, liest, was man bekommen kann, auch „Itschkerija", die Zeitung der Separatisten. Die Wut auf russische Soldaten ist groß. Eine junge Studentin erklärt unumwunden, sie würde gerne kämpfen und russische „Kontraktniki" (Vertragssoldaten) töten.
Uni-Rektor Adnan Chamsajew fährt nach einem anstrengenden Uni-Tag ohne Leibwächter nach Hause. Der hagere Mann erklärt, an den Unis und Instituten der Stadt seien 12 000 Studenten eingeschrieben. Die begehrtesten Studienfächer sind Jura, Wirtschaft und Medizin. Auf einen der 75 Plätze in der juristischen Fakultät gibt es 300 Bewerber. Mit einem Jura-Abschluss, so hoffen viele , finden sie Arbeit bei der Polizei. Den Zugang zur Uni lassen sich die Eltern etwas kosten. Zwischen 700 und 3000 Dollar Schmiergeld sind zu zahlen - ein Viertel der Summe, die in Moskau verlangt wird. Hauptsache, der Sohn geht nicht in die Wälder zu den „Bojewiki", den Kämpfern, hört man die Eltern sagen.
Dabei ist es nicht islamistischer Fundamentalismus, der die jungen Männer in die Wälder treibt, sondern eine falsch verstandene kaukasische Männerehre: Wer seine getöteten Angehörigen nicht rächen kann, gilt als Schwächling.
Beim abendlichen Gang durch halb zerstörte Wohnviertel dringt kaukasische Trommelmusik aus den Wohnungen. In einem Hof sitzen zwei Frauen, umringt von Kindern. Es wird getanzt. Die Lebenslust ist noch nicht vergangen.