Moskaus Märtyrerinnen
Der Prozess gegen die drei Frauen der feministischen Punk-Gruppe Pussy Riot wächst dem Kreml allmählich über den Kopf. Eigentlich wurde bereits mit der Verkündung des Urteils gegen die drei Frauen gerechnet.
Die Angeklagten haben ihr letztes Wort gesprochen. Doch ohne Angaben von Gründen setzte die Richterin die Urteilsverkündung auf den 17. August fest. Durch diesen späten Termin erhoffen sich das Gericht und der Kreml offenbar eine Atempause. Man glaubt an ein Abflauen der internationalen Aufmerksamkeit. Wenn es keine Gerichtsverhandlungen gibt, dann gibt es weniger Anlass, über Pussy Riot zu berichten, so offenbar das Kalkül.
Je länger der Prozess dauert, desto mehr Russen sprechen sich nach Meinungsumfragen für Milde gegenüber den Frauen aus. Selbst Kreml-nahe Künstler wie Fjodr Bondartschuk plädieren für eine Freilassung der drei Frauen. Das provokante Punk-Gebet gegen Putin in der Moskauer Christi-Erlöser-Kirche sei durch fünf Monate Untersuchungshaft bereits gesühnt, so die Meinung vieler Russen.
Der Prozess ist jedoch für das Gericht und den Kreml auch aus einem anderen Grund problematisch. Die drei Angeklagten geben vor Gericht eine gute Figur ab. Obwohl man Nadeschda, Maria und Jekaterina mit Schlaf- und Essensentzug quält und offenbar brechen will, sind die drei Frauen auch nach zehn Tagen Hauptverhandlung noch in der Lage, längere, intellektuell gut durchdachte und begründete Reden zu ihrer eigenen Verteidigung zu halten. Dabei verzichten sie auf billige Rhetorik und persönliche Angriffe. Die drei Frauen sehen sich nicht vor allem als Opfer, sondern als Vorkämpferinnen eines modernen, europäischen Russlands.
Das Vorgehen des Staates ist für viele Russen nicht glaubwürdig. Viele Menschen wissen nur allzu gut, dass in anderen Fällen, etwa wenn es um Korruption geht, der Staat oft spät oder gar nicht reagiert. Viele Russen sehen das Vorgehen gegen Pussy Riot deshalb als einen weiteren Schritt zur Einschüchterung der russischen Protestbewegung.
Politisch interessierte Russen fragen sich zudem, warum in einem Prozess gegen drei Frauen, die nicht gewalttätig waren, ein Polizei-Hund während der Verhandlung im Saal ist. Die Historikerin Irina Lewinskaja, die bei Gerichtsprozessen als Gutachterin arbeitet, bemerkte in der Zeitung „Nowaja Gaseta“, in den Prozessen gegen russische Neonazis, die zahlreiche Menschen auf dem Gewissen haben, seien nie Hunde anwesend.
Die Lage wird für den Kreml nicht einfacher. Man braucht nicht viel Phantasie, um sich vorzustellen, dass die drei Frauen – sollten sie nicht bald freigelassen werden – für den kritischen Teil der russischen Jugend zu Heldinnen und Märtyrerinnen werden. Die größere Gefahr sieht der Kreml aber offenbar zurzeit darin, dass ein mildes Urteil gegen die drei Frauen Nachahmer ermuntern könnte.
Wladimir Putin hatte dem Gericht letzte Woche empfohlen, gegen die Frauen nicht „zu streng“ zu urteilen. Die Hoffnung, diese Äußerung bedeute eine baldige Freilassung der Frauen, erscheint jedoch verfrüht. Mark Fejgin, der Anwalt der Angeklagten, warnte, das Gericht folge in der Regel dem vom Staatsanwalt vorgeschlagenen Strafmaß. Der hat drei Jahre Arbeitslager für alle drei Frauen gefordert.
Für Wladimir Putin wäre es jetzt höchste Zeit, gegenüber der Protestbewegung einen echten Dialog zu beginnen, sonst könnte die innenpolitische Situation in Russland irgendwann instabil werden. Denn für den Herbst hat die Protestbewegung neue Aktionen angekündigt, und da wird der Prozess gegen Pussy Riot vermutlich eines der Hauptthemen sein.
veröffentlicht in: Südkurier