Anastasija Udalzowa von der Linken Front kandidiert für die KPRF im Süden Moskaus. Bild: Ulrich Heyden
In den Moskauer Wahlkreisen Kunzewo und Tuschinskaja bekamen die Kandidaten von Einiges Russland bei den Parlamentswahlen 2016 weniger als 30 Prozent. Wenn also die Stimmen aller Wähler von KPRF, Gerechtes Russland und Jabloko für einen oppositionellen Kandidaten abgegeben werden, könne man – so der von Nawalny entwickelte Plan – einen Achtungserfolg oder sogar einen Sieg gegen Kandidaten der Regierungspartei erringen.
Wie die Nesawisimaja Gaseta berichtete, bekamen Direktkandidaten der KPRF und Jabloko bereits Mails, in denen den Kandidaten mitgeteilt wurde, sie seien auf der Wahlempfehlungsliste “Kluges Wählen” vermerkt. Man möge sich zwecks Absprache über Videokonferenzen mit dem Absender der Mail in Verbindung setzen.
Die angeschriebenen Kandidaten hätten auf dieser Aufforderung allerdings nicht reagiert, da nicht ausgeschlossen werden konnte, dass die Mails von staatsnahen Stellen stammen, welche Kandidaten der Opposition der Mitarbeit beim verbotenen Projekt “Kluges Wählen” überführen wollen, um sie dann von der Wahl auszuschließen.
Die russischen Behörden reagierten auf die Taktik der Nawalny-Leute nicht gelassen und souverän, sondern merkwürdig aufgeregt. Am 3. September verbot das Moskauer Schiedsgericht den Suchmaschinen Google und Yandex den Suchbegriff “Kluges Wählen” zu bedienen. Das Verbot scheint aber noch nicht zu wirken, denn als der Autor dieser Zeilen in der Suchmaschine Yandex den verbotenen Begriff eingab, wurden zahlreiche Ergebnisse angezeigt.
Am 6. September blockierte die russische Verbraucherbehörde Roskomnadsor die Website “Kluges Wählen” und forderte von der russischsprachigen Suchmaschine Yandex, die Links zur Seite von “Kluges Wählen” zu blockieren. Begründet wurde diese Aufforderung damit, dass “Kluges Wählen” mit dem in Russland wegen Extremismus verbotenen Anti-Korruptions-Fond von Navalny verbunden ist.
Die Sprecherin des russischen Außenministeriums, Maria Sacharowa, erklärte, die Initiative “Kluges Wählen” sei mit den USA verbunden. Der Server stehe in den USA und “die ganze Mannschaft, die sich an der Ausarbeitung beteiligt hat, ist auf die eine oder andere Art mit dem Pentagon verbunden”.
Am Dienstag berichtete der Kommersant unter Berufung auf einen Diplomaten, Autor der iPhone-Anwendungssoftware “Kluges Wählen” sei Roman Rubanow, der frühere Direktor von Nawalnys in Russland jetzt verbotenen Antikorruptionsfonds. Rubanow arbeite zur Zeit als Direktor für spezielle Projekte im US-Luft- und Raumfahrtunternehmen Momentus Space Inc.. Er lebe in San Franzisco. Präsident von Momentus sei der frühere Pentagon-Mitarbeiter Fred Kennedy. Geschäftsführender Direktor sei der frühere stellvertretende US-Verteidigungsminister John Rood. Es sei eine große Menge von neuen Daten aufgetaucht, welche die Einmischung der USA in die russischen Wahlen belegen.
Der russische Politologe Geworg Mirsajan, der in politischen Debatten meist auf der Seite der russischen Regierung steht, hat das Vorgehen der russischen Regierung und der Behörden gegen die Initiative “Kluges Wählen” im Internetportal “Snob” kritisiert. “Die Macht kämpft aus eigenem Interesse mit unmoralischen und sogar absurden Methoden gegen ein Projekt, welches äußerst gefährlich und schädlich für die russische Gesellschaft ist”, denn “Kluges Wählen” führe dazu, dass “Freaks” mit “antistaatlichen Anschauungen an die Macht kommen”. So würden beispielsweise “Freaks” im Moskauer Stadtparlament Haushaltsdebatten mit langen Auftritten zu einer autofreien Stadt lahmlegen.
Mirsajan erklärte weiter, in Russland gäbe es eine “nicht ausreichend entwickelte Wahlkultur”. Das Bedürfnis nach Stabilität, welches Putin in den 2000er Jahren zur Macht verhalf und seine Position festigte, sei befriedigt. Es gäbe jetzt ein “ein Übermaß an Stabilität”:
“Heute müssen die Menschen lernen, selbst zu wählen und für ihre Wahlentscheidung persönlich Verantwortung zu übernehmen. Heute müssen die Menschen ihre Wahl nicht mit den Ohren oder Herzen, sondern mit dem Kopf machen, die Programme der Kandidaten lesen, sie auf ihren Realitätsgehalt prüfen und den Werdegang des Kandidaten kennenlernen. Das ist ‘Kluges Wählen’.”
Wladimir Putin kündigte am Montag an, er werde demnächst in Quarantäne gehen, weil es in seiner Umgebung viele Corona-Infektionen gäbe. Am Dienstag wurde bekannt, dass der Kreml-Chef mit Verteidigungsminister Sergej Schojgu nach Sibirien fährt. In der Taiga hatten die beiden Politiker auch in den letzten Jahren schon kurze Erholungsurlaube eingelegt.
Die plötzliche “Quarantäne” des Kreml-Chefs wirkt auf den ersten Blick merkwürdig. Doch offenbar will der russische Präsident sich aus der Wahl jetzt ganz heraushalten, um danach bei möglichen Streit über die Wahlergebnisse als Schlichter aufzutreten.
veröffentlicht in: Krass & Konkret