30. August 2018

Putin unterstützt umstrittene Erhöhung des Rentenalters

Der Präsident handelt im Interesse des großen Kapitals, sagen die Oppositionsparteien und kündigen neue Demonstrationen an

Am 14. Juli - parallel zum Beginn der Fußballweltmeisterschaft in Russland - hatte die russische Regierung die Erhöhung des Rentenalters angekündigt. Wladimir Putin hat seitdem eine klare Positionierung zu dieser "Reform" vermieden. Die Reform stieß in der russischen Gesellschaft auf ein negatives Echo. Viele Menschen, welche die Erhöhung des Rentenalters ablehnen, hatten gehofft, Putin würde den Plan der neoliberalen Regierung stoppen. Diese Hoffnung erfüllte sich nicht.

Am Dienstagmittag erklärte der russische Präsident in einer Fernsehansprache, die Erhöhung des Rentenalters sei nicht beliebt, aber sie sei nötig. Es gäbe keine Alternative und es wäre falsch, die Reform aufzuschieben.

Zwei Gründe nannte Putin: eine demografische Lücke und ein Loch in der Rentenkasse. Jetzt kommen die jungen Leute ins arbeitsfähige Alter, welche in den 1990er Jahren geboren wurden. Doch in diesen Jahren herrschte in Russland wegen der Transformation vom Plan zum Markt eine schwere Wirtschaftskrise und es wurden wenig Kinder geboren. Das Verhältnis von arbeitender Bevölkerung und Rentenempfängern liege zurzeit bei 1,7 zu 1, erklärte der Präsident, und dieses Verhältnis werde sich weiter verschlechtern.

Um die geringen Einnahmen der Rentenkasse auszugleichen, sei eine Erhöhung des Rentenalters unausweichlich. Die Rentenreform müsse nur "gerechter und ausgewogener" durchgeführt werden, erklärte Putin. Die Frauen, welche bisher mit 55 Jahren in Rente gehen konnten, sollen nach dem Gesetzesprojekt der russischen Regierung ab dem 63. Lebensjahr in Rente gehen. Putin schlug in seiner gestrigen Ansprache nun vor, die Frauen sollten "schon" mit 60 Jahre in Rente gehen. Das sei gerecht, denn das Rentenalter für Männer habe die Regierung nur um fünf Jahr von 60 auf 65 heraufgesetzt.

Das russische Fernsehen zeigt agile Rentner an Computern

Die russischen Medien machten in den letzten Wochen massiv Stimmung für die Erhöhung der Rentenreform. Im Fernsehen werden immer wieder Rentner gezeigt, die an Sportveranstaltungen teilnehmen, sich in Bibliotheken weiterbilden und bei Lehrveranstaltungen mit lockerer Hand über Tabletts wischen.

Die Regierung will die ältere Generation im Wirtschaftsprozess halten. Ob die alten Menschen dann noch die Kraft haben, auf ihren geliebten Datschen zu buddeln und eigenes Gemüse und Obst zu ziehen, ist eher unwahrscheinlich.

Die durchschnittliche Lebenserwartung in Russland sei zwar von 65 Jahre im Jahre 2003 auf 72,5 Jahre gestiegen (67,5 Jahre für die Männer und 77,6 Jahre für die Frauen), behauptet das russische Statistikamt. Doch diese Nachricht beruhigt die Bevölkerung nicht. Viele fühlen sich von der Regierung verraten.

Als Trostpflaster für die Erhöhung des Rentenalters schlug Putin vor, die bereits versprochenen sozialen Vergünstigungen für Menschen, die nun länger arbeiten sollen, beizubehalten. Wichtig war dem russischen Präsidenten offenbar, den Eindruck zu vermeiden, die Rentenreform sei bereits beschlossene Sache und werde einfach durchgedrückt.

Im Fernsehen wiesen Politiker der Regierungspartei "Einiges Russland" immer wieder darauf hin, dass es eine "gesellschaftliche Debatte" gegeben habe. Die Kritiker der Reform hätten jedoch keine konstruktiven Alternativvorschläge vorgelegt.

Putin erklärte, es sei normal, dass die Opposition das Thema Rentenreform nutze, "um für sich Reklame zu machen". Doch die Vorschläge der Opposition, Einführung einer progressiven Steuer - statt des festen Steuersatzes von 13 Prozent - oder das Stopfen des Loches in der Rentenkasse durch zurückgelegte Reserven oder eine Abgabe der Öl- und Gas-Unternehmen würde nur Geld für "ein paar Tage" bringen.

Eigentlich - so der russische Präsident - hätte man das Rentenalter schon viel früher erhöhen müssen, da die Zahl derjenigen, die Rentenbeiträge zahlen, schon lange zurückging. Aber in den 1990er und den 2000er Jahren sei er wegen der schwierigen sozialen Situation im Land gegen eine Erhöhung des Rentenalters gewesen. Nun aber habe sich die russische Wirtschaft stabilisiert. Das Wachstum des Bruttoinlandprodukts lag 2017 allerdings nur bei 1,5 Prozent.

Putin: Keine Finanzreserven mehr - Linke: Russland hat genug Geld

Unmittelbar nach der Verkündigung der Regierungspläne Mitte Juli begannen Proteste gegen die Erhöhung des Rentenalters. Nach Berechnung des linken Duma-Abgeordneten Oleg Shein, der für die Partei "Gerechtes Russland" im russischen Unterhaus sitzt, beteiligten sich im ganzen Land über 200.000 Menschen an Protestkundgebungen. Organisiert wurden die Proteste vor allem von der Kommunistischen Partei der Russischen Föderation (KPRF), der Partei "Gerechtes Russland", der unabhängigen Gewerkschaft Konföderation der Arbeit und unabhängigen Linken.

Der Direktor des Instituts zur Globalisierung und sozialen Bewegungen, Boris Kagarlitsky, gehörte zu denjenigen, die in Internet-Interviews gegen die Rentenreform auftraten und damit mehrere hunderttausend Menschen erreichten. Der Politologe erklärte, "in Russland ist genug Geld da". Das Loch in der Rentenkasse von 2,2 Milliarden Euro sei keine "kritische Größe". Der Politologe wies auch darauf hin, dass der russische Haushalt in diesem Jahr ein Plus von 18 Milliarden Euro habe. Im nationalen Wohlstandsfond seien 45 Milliarden Euro angespart. Dieser staatliche Fond habe laut seinem Statut die Aufgabe, Löcher in der Rentenkasse zu stopfen. Die in den Medien verbreitete Behauptung, zwei Arbeitende müssten einen Rentner ernähren, stimme nicht, so Kagarlitsky. Denn von 42 Millionen Rentner seien offiziell 14 Millionen noch berufstätig und leisteten selbst noch Rentenabgaben. Bei sieben Millionen Rentner handele es sich um Schwerbehinderte. Faktisch gäbe es in Russland also nur 21 Millionen Rentner (bei einer Gesamtbevölkerung von 146 Millionen), die nicht arbeiten.

KPRF-Chef: "200 Oligarchen besitzen 90 Prozent des nationalen Reichtums"

Harte Kritik kam nach Putins gestriger Fernsehansprache auch von KPRF-Chef Gennadi Sjuganow, dessen Partei am 19. Juli, bei der ersten Lesung des Gesetzprojektes, gegen die Rentenreform stimmte, zusammen mit der Fraktion von "Gerechtes Russland" und Schirinowskis "Liberaldemokraten".

Sjuganow erklärte, der Präsident müsse die 200 Oligarchen des Landes in die Pflicht nehmen und - wie in Deutschland, den USA und China - progressive Steuern einführen, von der man dann die Renten zahlen könne. Die 200 russischen Oligarchen besäßen 90 Prozent des nationalen Reichtums. Geld sei also da.

Das politische Ziel der Rentenreform sei eine Disziplinierung des Arbeitsmarktes, meint der Politologe Kagarlitsky. Die Rentenreform sei keine typisch russische Angelegenheit. Vorgehen und Ziel sei typisch für kapitalistische Staaten. Durch die zusätzlichen Arbeitskräfte, welche durch die Erhöhung des Rentenalter auf den Arbeitsmarkt kommen, würden die Löhne gedrückt, denn die ältere Generation werde notgedrungen bereit sein, zu geringen Löhnen zu arbeiten.

Die Rentenreform bringe für alle außer den Vertretern des großen Kapitals Nachteile. Für die junge Generation bedeute die Heraufsetzung des Rentenalters, dass es wenig freie Stellen gibt. Die Menschen im mittleren Alter, welche ein solides Einkommen haben, kämen von zwei Seiten unter Druck, von Seiten der Jungen und der Alten, die unter den kapitalistischen Bedingungen beide bereit sind, ihre Arbeitskraft zu schlechteren Bedingungen zu verkaufen.

Der Duma-Abgeordnet Oleg Shein meint, das Verhältnis von Arbeitenden und Nicht-Arbeitenden habe sich in den letzten Jahrzehnten nicht wesentlich verändert. Was sich verändert habe, sei die Disziplin der Beitragszahlung in die Rentenkasse. Von 80 Millionen arbeitenden Russen zahlten regelmäßig nur 43 Millionen in die Rentenkasse ein. Der Rest der arbeitenden Bevölkerung sei in der Schattenwirtschaft tätig. Das sei jedoch kein Grund, "den Menschen die Rente zu nehmen". Das sei ein Grund, die Unternehmen zu zwingen, die Grauzone zu verlassen und Renten-Beiträge zu zahlen.

Die Zahlung von Löhnen und Gehältern "im Briefumschlag" hat in Russland seit den chaotischen 1990er Jahren große Ausmaße angenommen. Der plötzliche Zusammenbruch staatlicher Strukturen und die reale Not, einen vernünftig bezahlten Arbeitsplatz zu finden, führten dazu, dass viele Unternehmen mit ihren Arbeitnehmern im stillen Einverständnis kein offizielles Verhältnisse mehr eingingen. Die Rente ist in Russland mit durchschnittlich 177 Euro im Monat so gering und die Lebenserwartung so niedrig, dass es für viele Russen verlockender ist, jetzt gut zu verdienen, als sich gesetzestreu zu verhalten und Rentenbeiträge zu zahlen.

Der Duma-Abgeordnete Shein hofft, dass sich in Russland eine Massenbewegung gegen die Rentenreform entwickelt. Der Abgeordnete verweist auf das Jahr 2005, als in Russland landesweit überraschend zehntausende Rentner und Rentnerinnen gegen die Abschaffung der noch aus Sowjetzeiten stammenden sozialen Vergünstigungen für Pensionäre und Schwerbehinderte auf die Straße gingen.

veröffentlicht von Telepolis

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