Rentner bringen Putin ins Schwitzen
Wegen schlecht durchdachter Sozialreformen ist die Popularität des Kreml-Chefs in ungeahnte Tiefen gesunken. Pensionisten protestieren in St. Petersburg. Putins Geburtsstadt ist zur Hochburg des sozialen Unmuts geworden.
MOSKAU. Gennadij Schmitow ist offenbar zum Äußersten bereit. In einem Telegramm an den russischen Präsidenten Wladimir Putin drohte sich der im Gebiet Kaliningrad lebende Schwerbehinderte öffentlich zu verbrennen, sollte ihm die Gebietsverwaltung nicht Schwarz auf Weiß nachweisen, dass er durch die Streichung der bargeldlosen Vergünstigungen ("Lgoty") und der Einführung von Barzahlungen "nichts verliere, sondern nur gewinne". Zuvor hatte der Kreml-Chef öffentlich kundgetan, keinem Rentner und Invaliden dürfe es nach der Einführung der Sozialreform schlechter gehen. Schmitow, der sich als Mann mit "klarem Verstand und gutem Gedächtnis" bezeichnet, will den russischen Präsidenten einfach nur beim Wort nehmen.
Bis zur Einführung des berüchtigten "Gesetzes Nr. 122", mit dem die "Lgoty" durch Barzahlungen ersetzt werden, bekam die Familie Schmitow Vergünstigungen beim Telefon, beim öffentlichen Nahverkehr und bei Wohnungsnebenkosten. Insgesamt sparte das Ehepaar so 2500 Rubel (70 Euro). All die Vergünstigungen wurden nun durch eine Barzahlung von 950 Rubel ersetzt. Der krebskranke Schmitow weiß keinen Ausweg mehr. Allein für Medikamente gab er bisher pro Monat 1000 Rubel aus.
"Bei 1000 Demonstranten zittert die Macht, bei 10.000 Demonstranten muss sie Entscheidungen treffen, mit 50.000 Demonstranten kann man die Macht zum Rücktritt zwingen."
Ex-Schachweltmeister Garri Kasparow ermutigt zu weiteren Massenprotesten
Von der Streichung der "Lgoty" sind nicht nur Invaliden, sondern auch Rentner, Kriegsveteranen, Tschernobyl-Aufräumarbeiter und auch Polizisten und Soldaten betroffen. Die landesweite Protestwelle, die Anfang Jänner losgebrochen ist, konnte bisher durch nichts gestoppt werden.
Das politische Spektrum der Demonstranten reicht von Sozialdemokraten und Kommunisten bis hin zu den Liberalen. Die begrüßen zwar im Prinzip, dass die aus der Sowjetzeit stammenden Vergünstigungen abgeschafft werden, sie kritisieren aber scharf die schlechte Ausarbeitung und Umsetzung des Gesetzes.
Diese Woche machte der frühere Schachweltmeister Garri Kasparow 1000 Demonstranten vor der Stadtversammlung von St. Petersburg Mut: "Bei 1000 Demonstranten zittert die Macht, bei 10.000 Demonstranten muss sie Entscheidungen treffen, mit 50.000 Demonstranten kann man die Macht zum Rücktritt zwingen." Kasparow leitet das "Komitee 2008", das die Kandidatur eines demokratischen Kandidaten für die nächsten Präsidentschaftswahlen vorbereitet.
Die Regierung reagierte auf die Proteste bisher mit kleineren Zugeständnissen. So wurde eine Rentenerhöhung vorgezogen, es wurde die Auslieferung von verbilligten Medikamenten versprochen, in einigen Regionen wurde die kostenlose Benutzung des Nahverkehrs für Rentner wieder eingeführt. In anderen Gebieten wurde eine verbilligte Rentner-Monatskarten ausgegeben.
Doch trotz der Zugeständnisse gehen die Proteste weiter. Nun fordern die Demonstranten die Erhöhung der Hunger-Renten und den Rücktritt der Regierung. Für ein von den Kommunisten und Nationalisten in der Duma eingebrachtes Misstrauensvotum gegen die Regierung stimmten zuletzt aber nur 112 Abgeordnete (von 450). 281 Abgeordnete der Kreml-treuen Fraktion "Einiges Russland" blieben der Abstimmung fern.
"Einiges Russland", deren Abgeordnete die Reform im Parlament durchgeboxt haben, bevorzugte zunächst die Vogel-Strauß-Politik. Am Wochenende entschied sich die Partei dann aber doch, öffentlich Profil zu zeigen. Die Partei mobilisierte ihre Anhänger in Moskau und anderen Städten zu Demonstrationen für die Sozialreformen. Hauptargument der Reformbefürworter ist, dass etwa die Landbevölkerung von einer kostenlosen Benutzung des Nahverkehrs sowieso nie Gebrauch gemacht habe und von Bargeldzahlungen nur profitiere.
Wie schon bei früheren Demonstrationen der Kreml-nahen Partei "mobilisierten" Abteilungsleiter in Betrieben und staatlichen Einrichtungen ihre Untergebenen. Eine Nichtteilnahme an den verordneten Demonstrationen, über die das Fernsehen breit berichtete, kann für Arbeitnehmer Unannehmlichkeiten mit sich bringen.
"Diese Sozialreform ist unter Ausschluss von Öffentlichkeit und Wissenschaft von hochmütigen Experten ausgebrütet worden."
Ex-Präsident Michail Gorbatschow
An den Protesten in Russland beteiligten sich bisher weniger als ein Prozent der erwachsenen Bevölkerung. Doch unbedeutend seien die Proteste damit keineswegs, meint der bekannte Soziologe Juri Lewada. Denn nach Umfragen seines Meinungsforschungsinstituts würden die Proteste von 41 Prozent der Befragten unterstützt, weitere 41 Prozent der Bürger hätten Verständnis für die Demonstrationen. Die Zugeständnisse der Regierung würden nicht zu einer Beruhigung der Lage führen, meint Lewada: "Die Leute spüren, dass man mit Plakaten, Aufrufen und dem Verbrennen von Strohpuppen etwas bewirken kann."
Für Präsident Putin wird es allmählich ungemütlich. Michail Gorbatschow, der Putin bisher stets gegen Kritik aus dem Westen in Schutz genommen hatte, erklärte, Putin sei es gelungen, Stabilität herzustellen, aber nun werfe er "alles um". Die Sozialreform sei unter Ausschluss von Öffentlichkeit und Wissenschaft von "hochmütigen" Experten beschlossen worden. Bedrohlich empfindet Gorbatschow auch Regierungs-Pläne, Selbstbehalte für die medizinische Versorgung und die Ausbildung einzuführen.
Auch Moskaus Bürgermeister Jurij Luschkow, selbst ein führendes Mitglied von "Einiges Russland", erklärte, er werde gegen einzelne Artikel der Sozialreform vor das Verfassungsgericht ziehen. Moskau sei nicht in der Lage, alle gestrichenen Vergünstigungen durch Barzahlungen auszugleichen.
Das regierungsnahe Meinungsforschungsinstitut FOM meldete unterdessen einen markanten Popularitätsverlust des Kreml-Chefs: Für Putin würden heute 43 Prozent der Wähler stimmen. Es ist dies der niedrigste Wert seit Putins Amtsantritt.