6. September 2018

Kommentar: Requiem für Minsk

Donezk - Nach dem Mord an Aleksandr Sachartschenko, dem Präsidenten der „Volksrepublik Donezk“, schwinden die Aussichten für Verhandlungslösungen in der Ostukraine mehr denn je 

Unmittelbar nach dem tödlichen Anschlag am 31. August auf Aleksandr Sachartschenko – seit vier Jahren Präsident der „Volksrepublik Donezk“ – wird in Moskau ein Beileidsschreiben Wladimir Putins veröffentlicht. Der würdigt den Toten als „Patrioten des Donbass“, der stets mutig und entschlossen gewesen sei. Der „hinterhältige Mord“ zeige, wer „den Weg des Terrors sucht“ und „keinen realen Dialog mit den Bewohnern des Südostens führen will“. Mit dem „Südosten“ ist der Teil der Ukraine gemeint, in dem prorussische Stimmungen überwiegen. Putin nannte die Regierung in Kiew nicht beim Namen, aber fraglos werden in Moskau die Urheber des Attentats in deren Umfeld vermutet. Dennoch gibt es keinen Aufruf für eine internationale Untersuchung.

Dass irgendein westlicher Staat wegen des Mordes an Sachartschenko ukrainische Diplomaten ausweist, davon braucht man nicht einmal zu träumen. Zwar will die russische Regierung die Minsker Kontaktgruppe wegen des Falls bemühen, nicht aber das sogenannte Normandie-Format, das Dialogforum Russlands, der Ukraine, Deutschlands und Frankreichs. Außenminister Lawrow persönlich, nicht etwa ein Sprecher seines Ministeriums, erklärt, er halte das für abwegig und für eine „Schändung des Toten“. Weder Berlin noch Paris hätten Einfluss auf Präsident Poroschenko. Ein Hinweis darauf, dass in Moskau wie in Donezk und Luhansk der Minsker Prozess längst als sinnloses Unterfangen gilt, weil Kiew jede Autonomielösung für den Donbass hintertreibt und damit seit Jahren vertragsbrüchig ist. Die entscheidende Frage lautet: Wird Russland darauf irgendwann reagieren, indem es die „Volksrepubliken“ Donezk und Luhansk offiziell anerkennt? Und mit dem Minsker Vertrag unwiderruflich bricht? Wer das für möglich hält, der übersieht, dass aus russischer Sicht dieses Agreement auch einen symbolischen Wert hat. Das Abkommen, Anfang 2015 ohne die USA ausgehandelt, drückt den Anspruch aus, die Ukraine – mit oder ohne Donbass – nicht den USA zu überlassen. Hinweise darauf, dass die Trump-Administration auch nur einen Hauch von ihrer militanten, durch regen Waffentransfer bestimmten Pro-Poroschenko-Parteilichkeit abweicht, gibt es nicht. Insofern bliebe für Russland nur der Alleingang. Doch um welchen Preis?

Der getötete Aleksandr Sachartschenko war kein Diplomat, kein begeisterter Anhänger des Minsker Abkommens. In einem Interview, das ich jüngst mit ihm führte, sagte er: „Wir leben das fünfte Jahr im Krieg und in dem Glauben, früher oder später unser gesamtes Land, den gesamten Donbass, zu befreien.“ Den Anspruch darauf begründete er damit, dass die durch den Minsker Vertrag fixierten Demarkationslinien Familien trennen und Produktionsketten zwischen Berg- und Stahlwerken zerstören würden, die dem Volk gehörten.

Mit dieser Auffassung war Sachartschenko nicht nur für die Regierung in Kiew, sondern auch für die ukrainischen Oligarchen, deren Unternehmen er unter staatliche Kontrolle nahm, das Übel schlechthin. Wie nun Dmitri Trapesnikow, interimistischer Sachartschenko-Nachfolger, durchblicken lässt, bereitet sich die ukrainische Armee in der Ostukraine auf einen größeren Angriff vor. An Soldaten der Donezker Garnison seien Kurznachrichten mit dem Appell verschickt worden, die Waffen niederzulegen. Steht tatsächlich ein schwerer Schlagabtausch bevor, könnte sich der Minsker Prozess auch dadurch erledigt haben.

veröffentlicht in: der Freitag

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