Wladimir Putin auf der Pressekonferenz am Freitag: "What is this policy? That of imposing their standards without taking into consideration the history, religion, culture or national characteristics of these regions. This is, primarily, the policy conducted by our American partners; Europe blindly follows the lead, complying with its so-called allied commitments, and then it bears the brunt." Bild: Kreml
Wladimir Putin stellte am Freitag am Rande eines Wirtschaftsforums in Wladiwostok die wichtige Frage, wie es überhaupt zu den Flüchtlingsströmen nach Europa kam, wollte sich von den brutalen Methoden der ungarischen Regierung aber nicht distanzieren. Grund der Flüchtlingsströme sei die Politik "unserer amerikanischen Partner", den moslemischen Ländern "eigene Standards aufzwingt", erklärte der russische Präsident. Dabei würden "die historischen, religiösen, nationalen und kulturellen Besonderheiten dieser Regionen nicht berücksichtigt."
Europa folge dieser amerikanischen Politik "blind im Rahmen der Bündnisverpflichtungen und trägt jetzt die Last." Er (Putin) habe schon vor mehreren Jahren davor gewarnt, "dass es große Probleme geben wird, wenn unsere westlichen Partner diese falsche Politik insbesondere in der moslemischen Welt fortführen". Er wundere sich, wie jetzt einige amerikanische Medien Europa "wegen übertriebener Härte gegen Migranten kritisieren". Aber die Vereinigten Staaten würden ja nicht die Last der Migrationsströme tragen, meinte der Kreml-Chef.
Er wolle die westlichen Partner nicht als kurzsichtig und sich selbst als weitsichtig darstellen, meint Putin versöhnlich. Jetzt gehe es darum zu verstehen, was zu tun ist. "Das erste was man tun muss ist, gemeinsam gegen den Terrorismus vorzugehen." Darüber habe Putin schon mit Barrak Obama sowie den Führern der Türkei, von Saudi-Arabien, Jordanien und anderen Staaten gesprochen, meldet die Nesawisimaja Gaseta. Außerdem gehe es darum, "die Ökonomie und die soziale Sphäre" der Länder aufzubauen, aus denen die Menschen jetzt fliehen, sagte der russische Präsident. Im Übrigen würden die Menschen nicht vor Assad fliehen, wie man im Westen meine, sondern vor den Islamisten.
Die russischen Medien gucken durch ihre eigene Brille auf die Flüchtlingstragödie in Europa. Es fehlen grundlegende Informationen, wie etwa die, dass es in Westdeutschland schon seit Anfang der 1960er Jahre eine staatliche geförderte Einwanderung von Arbeitsmigranten aus Südeuropa gab. Das wissen oft sogar gut ausgebildete Russen nicht.
Dass viele westliche Gesellschaften schon seit Jahrzehnten faktisch Einwanderungsländer sind und dass es einen realen Bedarf an Arbeitskräften gibt, wird von den russischen Medien nicht erklärt. Obwohl gerade das wichtig wäre, denn Unverständnis, Hass und sogar Schadenfreude gegenüber Flüchtlingen trifft man in Russland zuhauf.
Die Enttäuschung vieler Russen über Deutschland ist groß. Anstatt seine "Grenzen zu öffnen" solle Deutschland stärker Selbstbehauptung gegenüber den USA zeigen, so eine weitverbreitete Meinung. Der Flüchtlingsstrom nach Deutschland führe zu einem weiteren "Identitätsverlust" Deutschlands, schreibt Galina Iwanowa, eine in München lebende Russin, die in der Komsomoslkaja Prawda Tagebuch-Eintragungen über Zumutungen durch Migranten - selbsterlebte und in der Zeitung gelesene - veröffentlicht. Der Bericht trägt die Überschrift "Chronik vom Tod Deutschlands". Merkwürdigerweise taucht in dem Tagebuch, das vom 4. Januar bis 27. August geführt wurde, kein einziges brennendes Flüchtlingsheim auf. Mancher Tagebucheintrag lässt allerdings schmunzeln: "Ich hörte von klugen Leuten, dass man die Flüchtlinge für den Fall des Krieges mit Russland herbringt (…) Von zehn Deutschen haben fünf Übergewicht, drei sind homosexuell und zwei Islamisten."
Die Meinung von Galina Iwanowna ist sicher besonders extrem. Doch viele Russen sind gefangen in Ängsten vor Flüchtlingen. Warum? Die Russen haben ihre eigenen Erfahrungen mit Flüchtlingsströmen. Es sind Erfahrungen aus einem armen Land. In den 1990er Jahren, als in Russland viele Fabriken still standen und Arbeiter und Rentner auf monatelang auf Löhne und Renten warteten, wurde das Riesenland auch noch mit einer Flüchtlingswelle aus verschiedenen Ecken des ehemaligen sowjetischen Riesenreiches konfrontiert.
Russischstämmige Menschen flüchteten damals unter dem Druck von örtlichen Nationalisten in Kasachstan und Tadschikistan nach Russland. Außerdem flüchteten Menschen vor den Kriegen um die armenische Exklave Nagorni-Karabach, Abchasien und Transnistrien ins russische Kernland. Diese Flüchtlinge wurden von den Russen als "zusätzliche Esser" eher widerwillig aufgenommen. Sie kamen nicht in eine reiche Gesellschaft, sondern in einen Staat, der seine Stabilität verloren hatte. Wissenschaftler mussten auf Freiluftmärkten ihr Geld mit dem Verkauf chinesischer Billigware verdienen. Hunderttausende Angehörige der russischen Intelligenz flüchteten in den 1990er Jahren vor Armut und Perspektivlosigkeit in Russland nach Europa, Kanada, Israel und in die USA.
Auch heute verbinden die Russen mit Flüchtlingsströmen Chaos und verschärfte Konkurrenz auf dem Arbeitsmarkt. Es grenzt an ein Wunder, dass die fast eine Million Flüchtlinge aus der Ost-Ukraine, die heute in Russland leben, aufgenommen wurden, ohne dass es zu Zwischenfällen kam. Wohl hört man hier und da Unzufriedenheit über die vielen Flüchtlinge, welche die Großstädte noch enger machen, doch in den russischen Medien findet man kein einziges negatives Wort über die Flüchtlinge aus der Ost-Ukraine. Im Gegenteil, es wird ausführlich über die erschütternden Lebensumstände in der Ost-Ukraine berichtet.
Russland selbst hat seine inneren Konflikte zwischen den Nationalitäten befriedet. Der tschetschenische Präsident Ramsan Kadyrow bekommt in Moskauer Zeitungen breiten Raum, um seine Positionen, darzulegen. Der Westen fördere "die Tragödie von Millionen Menschen" in moslemischen Ländern. Unter diesen Umständen hätten "die Führer der islamischen Staaten "kein Recht zu schweigen", meint Tschetscheniens Präsident. Kadyrow erklärt, er sei "bereit, alle möglichen Anstrengungen zu unternehmen, um die Situation zu ändern und den benachteiligten Menschen zu helfen". Wenn man heute nicht "gegen die unmenschliche Politik des Westens vorgehe, kann Morgen Unheil in jedes islamische Land kommen". Wie er genau helfen will, sagt Kadyrow nicht.
Von den 142 Millionen Einwohnern der Russischen Föderation sind 16 Millionen Muslime, die vorwiegend in Teilrepubliken an der Wolga, im Nordkaukasus, aber auch in Moskau und St. Petersburg wohnen. Obwohl in Moskau hunderttausende Moslems leben, gibt es nur drei Moscheen. Die Stadtverwaltung weigert sich, den Bau neuer Moscheen zuzulassen. Man möchte nicht, dass die Arbeitsmigranten aus Zentralasien sesshaft werden.
Während die Tschetschenen in ihrer Kaukasusrepublik faktisch ein von Moskau finanziertes Eigenleben führen und wenig Kontakt mit Zentralrussland haben, sind die Tataren, eine weitere große moslemische Minderheit in Russland, schon seit Jahrhunderten gut in die russische Gesellschaft integriert. Die Vorsitzende der russischen Zentralbank, Elvira Nabiullina, ist tatarischer Abstammung, ebenso wie Raschid Nurgalijew, der von 2004 bis 2012 russischer Innenminister war.
Die Millionen Arbeitsmigranten aus Zentralasien, ohne welche die vielen große Bauprojekte in Russland nicht realisierbar wären, sollen Russland nach einer bestimmten Zeit wieder verlassen. Sie leben in Sammelunterkünften und Containerdörfern. Zudem wurden die Gesetze verschärft. Der graue Arbeitsmarkt auf dem vor der Wirtschaftskrise noch vier Millionen Arbeitsmigranten tätig waren, soll so ausgetrocknet werden.
Seit dem 1. Januar muss ein Arbeitsmigrant aus Zentralasien, bevor er in Moskau auf einer Baustelle arbeiten kann, ein Arbeitspatent kaufen, Gesundheitsbescheinigungen von vier verschiedenen Ärzten vorlegen und Tests über die Kenntnis der russischen Sprache, Geschichte und Gesetze ablegen. Wegen der Wirtschaftskrise und den bürokratischen Erschwernissen ist der Strom der Migranten aus Zentralasien in den letzten Monaten stark zurückgegangen.
veröffentlicht in: Telepolis