15. September 2021

Russland zwischen Sowjet-Nostalgie und Zaren-Hype (Krass & Konkret)

Viktor Loginov/CC BY-SA-3.0
Foto: Viktor Loginov/CC BY-SA-3.0

In Russland ist eine Geschichtsdebatte aufgeflammt. Anlass ist die in St. Petersburg geplante Hochzeit eines Zaren-Nachkommen.

Manchmal kommen aus dem Munde von Wladimir Putin Worte, die einen Staunen lassen. Am 1. September erklärte der russische Präsident bei einem Treffen mit Schülern, wenn es 1917 keine Oktoberrevolution und 1991 keine Auflösung der Sowjetunion gegeben hätte, dann würde die Bevölkerungszahl in Russland heute nicht 146 Millionen, sondern weit mehr betragen. „Einige Experten meinen, dass wir eine Bevölkerung von 500 Millionen Menschen hätten.“

Putin weiß, dass es in der Bevölkerung nach wie vor eine große Nostalgie zur Sowjetunion gibt. Und der Kreml ist bestrebt, den aufgelösten Superstaat in kleinen Schritten wieder herzustellen. Bald will man mit Weißrussland eine Staatenunion bilden.

Während Putin vor allem das große Ganze im Auge hat, sehnen sich die Menschen vor allem nach Stabilität und einer ausreichenden sozialen Grundversorgung, sowie gleichen Chancen bei Bildung und Gesundheitsversorgung.

Doch hier liegt der Knackpunkt. Der Kreml will keine Sowjetunion, sondern einen modernen kapitalistischen Staat, der sich auf dem Weltmarkt behaupten kann.

„Oktoberrevolution von den Deutschen finanziert“

In den russischen Medien werden die sozialen Errungenschaften der Sowjetzeit konsequent verschwiegen oder belächelt. In russischen Geschichtsfilmen hat sich eine Sicht durchgesetzt, nach der die Oktoberrevolution nicht Folge sozialer Ungleichheit und eines verlorenen Krieges war, sondern dass es sich um einen Putsch der Bolschewisten gehandelt habe. Die Putschisten seien angeblich von Deutschland finanziert worden. Dieses Geschichtsbild passt zur Angst des Kreml vor einer bunten Revolution, an welcher der Westen tatsächlich ein großes Interesse hat.

Erst kürzlich schrieb die Sprecherin des russischen Außenministeriums, Maria Sacharowa, in einem öffentlichen Disput auf Facebook mit dem bekannten linken Video-Blogger Konstantin Sjomin: „Vergesse nicht, Konstantin Sjomin, dass die Bolschewiken von Deutschland bis zu dem Zeitpunkt finanziert wurden, als die Revolution siegte. Und danach begann der Bürgerkrieg in Russland. Wie viele Millionen starben letztlich durch die Hilfe des Auslands?“

Auf Facebook hagelte es harte Kritik an den Äußerungen von Sacharowa. Der User Dovran Flint schrieb: „Maria Sacharowa, wenn die Bolschewisten nicht gewesen wären, wären sie jetzt eine ungebildete Leibeigene irgendeines Gutsbesitzers.“ Der User Aleskandr Viktorowitsch kommentierte, „Dank der jungen Reformer von den Universitäten Stanford und Yale und dem Stern des amerikanischen Kongresses, Jelzin, starben weit mehr ‘Millionen’ und das geschah nicht ohne Hilfe des Auslands.“ Der User Iwan Stagis meinte: „Maria Sacharowa, Ihr Post zeugt von professioneller Ungebildetheit. Sie sollten nicht die russische Diplomatie repräsentieren, sondern die ukrainische-baltische. Dort liebt man das Märchen vom ´Spion Lenin´.“

Die Warnung vor einem Bürgerkrieg in Russland zieht sich seit 1991 wie ein roter Faden durch die Argumentation der russischen liberalen Elite. Der letzte gewalttätigen Widerstand gegen den neoliberalen Kurs von Boris Jelzin mit einer Besetzung des Fernsehzentrums Ostankino gab es zuletzt 1993. Die Möglichkeit einer Revanche der Kommunisten auf Wahlebene gab es zuletzt 1996. Heute haben die Kommunisten nicht die Kraft für eine Revanche.

Die russische politische Elite hat seit den 1990er Jahren dazugelernt. Ein stabiles Staatswesen ist nicht zu haben, wenn ein Großteil der Menschen in Armut lebt. Die soziale Situation hat sich seit den 1990er Jahren erheblich verbessert. Doch immer noch leben zwanzig Prozent der Bevölkerung an der Armutsgrenze. Kostenlose Bildung und Gesundheitsversorgung gibt es nur noch eingeschränkt. Vor einer progressiven Einkommenssteuer, wie sie in fast allen Staaten Westeuropas üblich ist, schreckt Wladimir Putin immer noch zurück. Offenbar ist der Kreml-Chef immer noch der Meinung, dass so eine Maßnahme „Investoren abschreckt“.

Medien-Hype um Hochzeit eines Zaren-Nachkommen

Die Einlassung von Maria Sacharowa, der Sprecherin des russischen Außenministeriums, gegenüber dem Blogger Sjomin bezog sich auf einen Post des Bloggers, indem er sich über den Film „Die Romanows. Hochzeit des Jahrhunderts“  lustig gemacht und zugleich vor einer Schönschreibung der russischen Zaren gewarnt hatte.

Der Film „Hochzeit des Jahrhunderts“ wurde im Februar vom russischen Fernsehkanal Pervi gezeigt. Der Film der liberalen Fernsehmoderatorin Ksenija Sobtschak war der für diesen Herbst geplanten Hochzeit eines Zaren-Abkömmlings in St. Petersburg gewidmet. Für Sjomin ist das gute Verhältnis des Kreml zu den Nachkommen der Zaren-Dynastie immer wieder Anlass für Kritik.

Aus dem Film „Hochzeit des Jahrhunderts“ veröffentlichte Sjomin ein Bild, indem der Vater von Ksenija Sobtschak, Anatoli Sobtschak, bis 1996 Bürgermeister von St. Petersburg, Vertreter der Romanow-Dynastie an der Newa empfing. Unter das Bild schrieb der Blogger: „Sobtschak-Narusowa küssen sich leidenschaftlich mit Wladimir Kirilowitsch, der im Juni 1941 zum Kreuzzug gemeinsam mit Hitler gegen den Bolschewismus aufrief.“

Sjomin bezieht sich auf die historische Tatsache, dass der Nachfolger des russischen Zaren, Wladimir Kirilowitsch, der in Frankreich in der Emigration lebte, die russischen Emigranten 1941 zur Zusammenarbeit mit Hitler „gegen den Kommunismus-Bolschewismus“ aufrief.

Für den Herbst ist nun in St. Petersburg eine Hochzeit zwischen dem Zaren-Nachfahren Georgi Michailowitsch Romanow und Rebecca Bettarini, der Tochter eines italienischen Diplomaten, geplant. Das teilte das „Haus der Romanows“ mit.

Auf historischem Boden will der 40 Jahre alte Georgi Michailowitsch Romanow, Urenkel des Cousins des letzten russischen Zaren, Kirill Wladimirowitsch Romanow, in den Ehestand treten. Die Verlobung wurde bereits in einer russischen Kirche vollzogen.

Die russische Trikolore und Hitler-Kollaborateur Wlassow

Der Video-Blogger Sjomin, der jahrelang beim russischen Staatskanal Rossija 24 arbeitete und Korrespondent in den USA war, spürt seit einigen Jahren immer wieder Fälle auf, wo russische Monarchisten oder Hitler-Kollaborateure in Russland zu Ehren kommen.

Selbst die weiß-blau-rote russische Trikolore, die auf dem Kreml-flattert, ist Sjomin suspekt. Er würde dort lieber die rote Fahne sehen. Denn die Trikolore war das Erkennungszeichen der „Russischen Befreiungsarmee“ (ROA). Die Armee wurde von General Andrej Wlassow geführt und operierte im Zweiten Weltkrieg unter dem Kommando der Hitler-Wehrmacht. Tatsächlich beschränkt sich die Geschichte der russischen Trikolore nicht auf die ROA. Die Trikolore spielte schon unter dem Zaren Peter dem Großen eine Rolle.

Die Sprecherin des russischen Außenministeriums, Maria Sacharowa, entrüstete sich über die Kritik des Bloggers an der russischen Fahne. „Die Kriegsveteranen sitzen unter dieser Flagge auf dem Roten Platz. Nur ein Provokateur kann so vorgehen. Bei uns kann jeder seine politischen Ansichten haben. Aber die gemeinsame staatliche Symbolik mit dem Feind gleichzusetzen, der uns fast vernichtet hat, ist schändlich.“

Verhängtes Lenin-Mausoleum

Seit der Auflösung der Sowjetunion sucht Russland nach einer neuen Identität. Wladimir Putin hat bei seinem Machtantritt einige Zugeständnisse an die Sowjet-Nostalgie in der Bevölkerung gemacht. Er führte 2000 die alte Melodie der sowjetischen Hymne wieder ein, gab ihr aber einen neuen Text, der vom Autor der sowjetischen Hymne geschrieben wurde. Boris Jelzin hatte die sowjetische Nationalhymne durch eine neue Hymne mit neuer Melodie und Text ersetzt. Diese Hymne wurde aber nicht populär.

Unter Putin wurde bei Militärparaden neben der russischen Trikolore auch wieder verstärkt die historische rote Fahne gezeigt, mit welcher die sowjetischen Soldaten 1945 den Reichstag stürmten.

Doch das Verhältnis des Kreml zur sowjetischen Geschichte ist trotz der Wiedereinführung der sowjetischen Hymne zwiespältig. Das kann einen eigentlich nicht verwundern, denn Russland ist ein kapitalistisches Land und es wäre höchst erstaunlich, wenn die sozialistischen Prinzipien von Volkseigentum und Einheitslohn im neuen Russland fortleben.

Die besitzende Klasse in Russland möchte ruhig leben. Den in den letzten 30 Jahren erworbenen Reichtum und die Privilegien möchte man nicht nur behalten, sondern vermehren. Es gibt in Russland Schulen für die Kinder der Bessergestellten, Privatkliniken, üppige Anwesen, Konsum- und Reisemöglichkeiten und Immobilien im Ausland. Die Kinder der Unternehmer und Spitzenbeamten besuchen Universitäten in England und den USA.

So ist es eigentlich kein Wunder, dass das Lenin-Mausoleum auf dem Roten Platz bei festlichen Anlässen und Paraden verhängt wird und die geplante Hochzeit eines Zaren-Abkömmlings zum Medien-Hype wird.

veröffentlicht in: Krass & Konkret

 

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