© FOTO : ULRICH HEYDEN
Bürger von Tallin stecken am Tynismegi-Platz in den Bauzaun hinter dem der Bronzene Soldat stand Blumen, 9. Mai 2007
Heyden war 2007 in Estland, als das Denkmal der Befreier Tallinns gestürzt wurde. „Es hat mich aber sehr berührt, an der Stelle, wo der Bronze-Soldat stand, viele Blumen, rote und gelbe Nelken zu sehen. So hat die russischsprachige Bevölkerung in Estland die Trauer über den Sturz dieses Denkmals ausgedrückt. Wie haben die deutschen Medien darauf reagiert? Entweder haben sie nicht darüber berichtet oder sie haben gesagt, die russische Botschaft hätte sozusagen Straßenkrawalle initiiert. Es waren tatsächlich 1.500 Leute auf der Straße, die gegen den Sturz des Denkmals demonstriert haben, das an die Befreiung Estlands durch die Rote Armee erinnert. Wie kann man so ein Denkmal stürzen? In Estland wurde ja nach der Einnahme durch die Deutsche Wehrmacht stolz verkündet, Estland sei judenfrei. Da schreit einen die Geschichte einfach an!“
Die Frage sei einfach zu beantworten, so der Journalist. „Es ist bewiesen, dass die Wehrmachtssoldaten an Massenexekutionen von Juden und Partisanen beteiligt waren. Darüber haben sie in Fotos und in Tagebucheintragungen selber die Chronik geführt. Der Publizist Hannes Heer und andere Historiker aus Hamburg haben in der Ausstellung,Vernichtungskrieg. Verbrechen der Wehrmacht‘ dies dokumentiert. Ich erinnere mich an das Bild, wo ein deutscher Soldat einem Juden einen langen Bart mit einem höhnischen Grinsen abschneidet. Die Lüge über die sauber gebliebene und ehrbare Wehrmacht hat man uns von 1945 bis 1968 erzählt. Und dann fing die Jugend an, das in Frage zu stellen, Bücher zu lesen und nach Beweisen zu fragen, was genau an der Ostfront passiert war.“
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Anna Pessina
Besonders fest ist in Heydens Erinnerung ein Interview mit einer älteren Frau, einer Frau aus dem Volk geblieben. „Sie war als Krankenschwester vor Stalingrad eingesetzt. Zuvor hatte sie in einer Fabrik im blockierten Leningrad als Krankenschwester gearbeitet. Dann hat sie sich freiwillig an die Front gemeldet. Sie hat mir ihre ganze Lebensgeschichte erzählt, und das war sehr berührend. Ich hatte das Gefühl, sie ist von ihrer menschlichen Wärme so wie meine Großmutter. Ich habe gelernt, einfach von einer anderen Warte aus auf diesen Krieg zu gucken.“
Bis zu diesen Interviews sei dieser Krieg für den Buchautor absolut abstrakt, sagt er weiter.
„Das waren irgendwelche Zahlen von Toten. Jetzt habe ich durch diese Menschen, die mir das in allen Details erzählt haben, einen völlig anderen Zugang. Es waren ja nicht immer Helden und große Taten, die sie vollbracht haben. Einfach der normale Soldatenalltag und die Strapazen und die Briefe an die Familie, die zu Hause geblieben ist.“
Heyden erinnert sich an einen jungen Soldaten aus Sibirien. „Er ist als Achtjähriger auf einen Zug geklettert, um mitzukämpfen. Und gerade diese Jungen, die acht, zehn oder elf Jahre alt waren, haben als Helfer mit den Rotarmisten gekämpft. Sie zeigen ja auch, was in diesem Land überhaupt los war, dass das ganze Volk bereit war, sich zu wehren. Und das ist auch wichtig zu zeigen, weil die Deutschen denken oder wird heute verbreitet, dass die Rote Armee nur kämpfte, weil hinter den Reihen KGB-Leute mit der Kalaschnikow standen und sie zum Kampf zwangen.“
Es werde in Mainstreammedien so getan, so der Journalist, „als ob die Russen eigentlich gar nicht um ihr Land kämpfen wollten, sondern fast schon bereit waren, sich vom Bolschewismus befreien zu lassen. Mein Vater, der als Soldat kurz vor Moskau stand, hat bis zu seinem Tod diese These vertreten. Und das sei nichts Schlechtes gewesen. Der andere Blick, den ich hierzulande gewonnen habe, hat mich Russland noch näher gebracht, was nicht heißt, dass ich alles, was im Land passiert, gut finde.“
Heyden sagt, dass die Seele des russischen Volkes mit diesem Krieg verbunden sei. „Nur wenn man mit den Menschen spricht, die diesen Krieg erlebt haben, und nicht nur die Soldaten, sondern auch die Frauen und die Kinder, die zu Hause geblieben sind, die ihre Väter verloren haben, dann versteht man, was das russische Volk eigentlich ist.“
Der Buchautor ist der Auffassung, dass 30 Prozent der Deutschen der Meinung seien, „dass es eine Befreiung war. Aber viele Leute wissen über diesen Tag überhaupt nichts und denken gar nicht groß darüber nach. Das Wichtigste ist, dass die offizielle Politik und die großen deutschen Medien über diesen Tag nichts Positives berichten. Die Überlebende des KZ Auschwitz Esther Bejarano hat jetzt gefordert, diesen Tag zum Feiertag zu machen. Und dann haben während einer Bundestagsdebatte CDU-Abgeordnete gesagt, man kann den Deutschen nichts vorschreiben.“
Diese Forderung, den 8. Mai zum Feiertag zu machen, sei besonders in den ostdeutschen Bundesländern stark, urteilt Heyden, in den westdeutschen ganz schwach. „Das Problem ist, dass durch falsche Dokumentation im Fernsehen das Bild in Deutschland immer mehr, wie in den 50er und 60er Jahren vermittelt wird, dass eigentlich die Deutschen die Opfer waren. Sie waren die Flüchtlinge. Sie mussten ihre Gebiete verlassen, und die Kriegsgefangenen wurden nach Sibirien gebracht. Da gibt es eine Unmenge von Enthüllungen über Stalin. Und das alles zusammen verschlingt den glücklichen Tag, den 8. Mai, wo Europa vom Hitlerfaschismus befreit wurde. Da muss man darum ringen, dass die Wahrheit nicht untergebuttert wird.
Lektürtipp:
Ulrich Heyden: Wer hat uns 1945 befreit? Interviews mit Kriegsveteranen und Analysen zu Geschichtsfälschung und neuer Kriegsgefahr. Biografien & Erinnerungen.
Hamburger Verlag „tredition“
veröffentlicht in: Sputnik