Warteschlange für die Warteliste
Wie im Bildungsbereich will die russische Regierung auch im Gesundheitswesen durch die Zusammenlegung von Einrichtungen Kosten sparen. Zwar schafft die Regierung durchaus teure medizinische Apparaturen aus dem Ausland an. Doch gleichzeitig wird das Gesundheitsbudget reduziert und die für alle kostenlosen Grundleistungen in den Kliniken eingeschränkt.
Bis auf eine kleine Gruppe von Beschäftigten ausländischer Unternehmen und SpitzenbeamtInnen, die zu guten Konditionen privat versichert sind, ist der Grossteil der Bevölkerung bei einer staatlichen Pflichtversicherung Mitglied, die theoretisch alle Behandlungskosten übernimmt. In den Polikliniken muss man jedoch für fast jede Leistung Schmiergelder an die schlecht entlöhnten ÄrztInnen bezahlen.
In den Polikliniken ist zudem die Betreuung sehr schlecht. So muss man sich als staatlich VersicherteR für ein EKG in eine Warteschlange einreihen, nur um sich auf eine Warteliste setzen lassen zu können. Dann muss man wieder tagelang warten, bis das EKG gemacht wird – eine Tortur für kranke Menschen oder solche, die einen Beruf ausüben. Nur für ein Schmiergeld von über vierzig Franken kann man etwa die Wartezeit von drei Wochen für einen ärztlichen Termin umgehen. Deshalb warten die meisten RussInnen mit dem Arztbesuch, bis sie richtig krank sind. Die jährlichen Pflichtuntersuchungen mit Blut- und Augentest, wie sie zu Sowjetzeiten in Schulen und Betrieben vorgeschrieben waren, finden heute nur noch selten statt.
Die Leidtragenden dieser Reformen und Mittelkürzungen sind aber nicht nur die PatientInnen. Wie viel Unzufriedenheit sich beim medizinischen Personal angestaut hat, zeigte sich im April bei einem Streik von Kinderärztinnen zweier Spitäler in Ischewsk. Die Industriestadt in der Teilrepublik Udmurtien, vier Flugstunden östlich von Moskau, ist durch ihre Kalaschnikowfabrik bekannt. Auslöser der Protestaktion waren Gehaltskürzungen, Repressionen vonseiten der Spitalverwaltung und eine Überbelastung während der alljährlichen Grippewelle im Frühling.
Nicht nur hatte die Verwaltung zuvor die Zahl der Kinder, die jede Ärztin und jeder Arzt im Einzugsbereich des Spitals zu betreuen hat, um ein Drittel erhöht, sie verlängerte auch die Arbeitszeit von bisher 12 auf 14 Stunden (die gesetzliche Arbeitszeitnorm beträgt 7,8 Stunden). Zudem benutzte sie einen 2006 von Präsident Wladimir Putin eingeführten «Präsidenten-Lohnzuschlag» von monatlich 280 Franken – zusätzlich zum Grundgehalt von rund 110 Franken – als Disziplinierungsinstrument, damit sich die ÄrztInnen an die Vorschriften hielten.
Deren Wut entlud sich in einem dreiwöchigen Bummelstreik, in dem acht Ärztinnen aus zwei Spitälern strikt nach Vorschrift arbeiteten und sich für jedes Kind zwanzig Minuten statt der üblichen fünf Zeit nahmen. Organisiert wurde der Streik von der Ende 2012 gegründeten unabhängigen Gewerkschaft für medizinisches Personal Dejstwije (Aktion). Als drei der Ärztinnen auch noch einen Hungerstreik begannen, erhielten sie landesweite Medienaufmerksamkeit. Unabhängige Gewerkschaften organisierten Solidaritätskundgebungen, und auch von den Eltern erhielten die Ärztinnen Unterstützung. Als einen ersten Erfolg konnten sie eine Lohnerhöhung von fünfzehn Prozent erreichen. Da sich aber die Arbeitszeiten nicht verbessert haben, planen sie bald wieder einen «Dienst nach Vorschrift». Dank des grossen Medienechos sind sie überzeugt, dass sich am nächsten Bummelstreik mehr ÄrztInnen beteiligen werden.
Ulrich Heyden
veröffentlich in: Die Wochenzeitung (Zürich)