4. August 2008

Zum Tod von Aleksandr Solschenizyn

Im Alter von 89 Jahren starb am Sonntag der Schriftsteller Aleksandr Solschenizyn. Mit seinen Büchern öffnete er den Menschen die Augen über Lager, Lüge und Staats-Terror.

Montag Morgen. Eine Nachbarin legt einen Blumenstrauß vor einem hellblauen Holztor ab. Hinter dem Tor befindet sich die große Datscha von Aleksandr Isajewitsch Solschenizyn. Hier im Dorf Troize-Lzkowo, umgeben von Fichten und nicht weit vom Moskwa-Fluss, lebte der Schriftsteller zusammen mit seiner Frau Natalja. Zuletzt arbeiteten die Beiden an einer 30bändigen Gesamtausgabe. „Es war ein Tag, wie jeder andere“, erklärte Stepan, der Sohn des Schriftstellers, im russischen Fernsehen. Solschenizyn war sehr gebrechlich geworden. Vor der Presse hatte er sich nur noch selten geäußert.

Am Sonntag Abend musste die Familie dann schnell Ärzte rufen. Doch sie konnten nichts mehr ausrichten. Aleksandr Solschenizyn starb um 23:45 in seinem Haus an Herzversagen, nur wenige Monate vor seinem 90ten Geburtstag. Nichts habe den Tod angekündigt, sagt der Sohn. So bleibe eine schöne Erinnerung an den Vater.

„Eine Oligarchie ist an der Macht“

Solschenizyn war in den 70er und 80er Jahren zum Symbol für Freiheit und Mut geworden. Seine Bücher, in denen er die Insassen der Gulag-Lager zu Wort kommen ließ, öffneten nicht nur den Menschen in der Sowjetunion, die seine Werke, kopiert auf Schreibmaschinen-Seiten lasen, sondern auch manchem Linken im Westen die Augen über das Ausmaß der Unterdrückung und Verfolgung. Solschenizyn wurde im Westen zum lebenden Beweis für die Unmenschlichkeit des Sowjetsystems. Der Schriftsteller warnte nach seiner Ausbürgerung in den 70er Jahren vor zuviel Konzessionsbereitschaft gegenüber der Sowjetunion. 17 Jahre lebte Solschenizyn im US-Staat Vermont, doch er wurde nicht zum glühenden Anhänger des westlichen Lebens-Modells. In den letzten Jahren kritisierte Solschenizyn den „Werteverfall“ im Westen und in Russland. Er beschuldigte Boris Jelzin, er habe Russland in den Ruin getrieben. Vor der Duma, dem russischen Parlament, erklärte der Schriftsteller mit aufgeregter Stimme, „heute haben wir eine Oligarchie. Die Macht wird von einem engen Personenkreis ausgeübt“. Dies Sätze wurden gestern sogar vom russischen Fernsehkanal RTR gesendet. Offenbar sah man darin nichts Staatsgefährdendes, denn nach offizieller Lesart gibt es seit der Entmachtung des Medien-Zaren Wladimir Gussinski, des Finanz-Jongleurs Boris Beresowski und des Öl-Magnaten Michail Chodorkowski in Russland keine Oligarchen mehr. Von Boris Jelzin wollte Solschenizyn keinen Staatspreis entgegennehmen. Mehrmals kritisierte er die Politik des Westens, so 1999 den Einsatz der Nato in Jugoslawien.

„Persönliche Tragödie“

Der ehemalige KGB-Chef und heutige Ministerpräsident Wladimir Putin sprach in einem Beileidstelegramm von einem „schweren Verlust“ für ganz Russland. „Wir sind stolz, dass Aleksandr Isajewitsch Solschenizyn unser Landsmann und Zeitgenosse war.“ Der letzte Generalsekretär der KPdSU, Michail Gorbatschow, unter dem das Hauptwerk des Schriftstellers, „Archipel Gulag“, das erste Mal als Buch erschien, würdigte den Verstorbenen als einen der Ersten, der „mit voller Stimme“ über „die Unmenschlichkeit des Stalin-Regimes“ und über die Menschen, die dieses System erlitten haben, „aber nicht gebrochen wurden“ gesprochen hat. Der Vorsitzende der liberalen „Jabloko“-Partei, Sergej Mitrochin, erklärte, Dank Solschenizyn hätten „Millionen Menschen erfahren, in welchem Land sie leben.“ Seine Bücher hätten den Stalinismus in der Sowjetunion als herrschende Ideologie zerstört. „Trotz aller Zählebigkeit wird der Stalinismus in unserem Land nie wieder errichtet,“ ist sich Mitrochin sicher. Die Meinung von KP-Chef Gennadi Sjuganow wirkte da wie eine Stimme aus der Vergangenheit. Was Solschenyzin über „die frühe Periode der Sowjetunion“ geschrieben habe, sei „nicht immer objektiv“ gewesen. Man dürfe nicht seine „persönliche Tragödie“ im Arbeitslager auf die „Leistungen eines ganzen Volkes“ übertragen.

Aus aller Welt trafen gestern Beleid-Telegramm in Moskau ein. George Bush trauerte um einen „Kämpfer für die Freiheit“, Angela Merkel sprach von einem „Mahner“, „Moralisten“ und „unerschrockenen Kämpfer“, der stets gegen Willkür und für Menschenrechte eingetreten sei.

Als Hauptmann an die Front

Solschenizyn wurde am 11. Dezember 1918 in dem nordkaukasischen Kurort Kislowodsk geboren. Sein Vater war ein russisch-orthodoxer Bauer, seine Mutter Tochter eines ukrainischen Gutsbesitzers. Der Vater starb noch vor der Geburt des Sohnes bei einem Jagdunfall. Schon als Jugendlicher sei er gehänselt worden, berichtete Solschenizyn, weil er ein Kreuz auf der Brust trug und nicht zu den jungen „Pionieren“ wollte. Solschenizyn studierte Mathematik und Physik. Ein anschließendes Literatur-Studium wurde durch den beginnenden Zweiten Weltkrieg unterbrochen. Solschenizyn kämpfte an der Front als Chef einer Schallmesstruppe. Im Februar 1945 wurde er verhaftet, weil er sich in einem Brief an einen Freund kritisch über Stalin geäußert und ihm eine Abweichung von Leninschen Normen vorgeworfen hatte.

Erste Veröffnetlichungen währen des „Tauwetters“

Für Aleksandr Isajewitsch begann eine Odyssee durch verschiedene Arbeitslager. Solschenizyn begann das Erlebte aufzuschreiben. 1953, dem Jahr von Stalins Tod, wurde der Schriftsteller aus dem Lager entlassen. Es folgten drei Jahre Verbannung in der Steppe Kasachstans, wo Solschenizyn als Dorfschullehrer arbeitete. Sein Leben war akut bedroht. Bereits 1952 hatte man eine Krebserkrankung bei ihm festgestellt. 1953 wurde er in einem Krankenhaus von Taschkent operiert. Seine Eindrücke schrieb er im Buch „Krebsstation“ nieder.
Nach der Entlassung 1956 arbeitete der Schriftsteller als Mathematiklehrer in einem Dorf im Gebiet Wladimir, nicht weit von Moskau. 1962, als unter Generalsekretär Chrutschow die „Tauwetter“-Periode begann, konnte Solschenizyn in der Literaturzeitschrift „Nowy Mir“, fünf Erzählungen veröffentlichen, so unter anderem „Ein Tag im Leben des Iwan Denisowitsch“. Mit dem Machtantritt von Leonid Breschnjew endeten diese kleinen Freiheiten.
Die Erzählung „Krebsstation“ wurde verboten, wurde jedoch im Untergrund als „Samisdat“ auf Schreibmaschine kopiert und verbreitet. Der Schriftsteller bekam viele Briefe von ehemaligen Häftlingen. Sie bildeten den Grundstock zu seinem Hauptwerk, „Archipel Gulag“, in dem er die Schicksale von 227 Überlebenden des Lager-Systems beschrieb. 1973 fielen dem KGB Teile des Manuskripts in die Hände. Nun musste das Werk schnell im Ausland veröffentlicht werden.

Lebender Beweis der Unmenschlichkeit


Nachdem Solschenitzyn 1970 den Literatur-Nobelpreis bekam, den er jedoch aus Angst, nicht wieder in die Sowjetunion zurückkehren zu können, nicht persönlich annahm, begann in der Sowjetunion eine massive Kampagne gegen die Dissidenten. 1973 wurde der erste Band von „Archipel Gulag“ in Paris veröffentlicht. Im Westen stieß das Buch auf ein gewaltiges Echo. Im Januar 1974 wurde dem Schriftsteller auf nach einer Beratung im Politbüro die Staatsbürgerschaft aberkannt. Solschenizyn wurde in die Bundesrepublik abgeschoben, wo der Schriftsteller eine Zeitlang bei seinem Kollegen Heinrich Böll lebte. Später lebte Solschenizyn in Zürich und schließlich 17 Jahre im US-Bundesstaat Vermont.

Der Mahner


1994 kehrte Solschenizyn nach 20jähriger erzwungener Emigration nach Russland zurück. Aus Alaska kommend landete er mit einem Flugzeug in Wladiwostok, von wo er Russland in einem Eisenbahnzug von Ost nach West in Augenschein nahm. Auf den Bahnhöfen versammelten sich große Menschenmassen, die Jedes Wort des Schriftstellers aufzusaugen schienen. Es war die Zeit des Umbruchs und der Neuorientierung. Von nun an arbeitete Solschenizyn als Mahner und Warner. Er versuchte sein Modell des russischen Staates, mit einer starken örtlichen Selbstverwaltung und orientiert am russisch-orthodoxen Glauben, ins Gespräch zu bringen. Doch in Russland hatten die Menschen andere Probleme. Es wurden keine Löhne gezahlt. Man musste sehen, wie man über die Runden kam. Mit der Stabilisierung der russischen Wirtschaft begann dann 2002 ein großer Konsumrausch. Der Tod des Schriftstellers bietet jetzt noch einmal Gelegenheit, sich zu vergewissern, über das, was man gewonnen und das was man verloren hat.
Die Bürger Russlandes können heute (Dienstag) in der Akademie der Wissenschaften von dem Verstorbenen persönlich Abschied nehmen. Der Leichnam von Aleksandr Solschenizyn wird in einem offenen Sarg aufgebahrt. Am Mittwoch wird der Schriftsteller auf dem Friedhof des Moskauer Donskoj-Klosters beerdigt. Den Ort hatte sich der Schriftsteller noch zu Lebzeiten selbst ausgesucht.
copyright by Ulrich Heyden, Moskau (Veröffentlichung nur nach Rücksprache mit dem Autor)

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