Eskalation in Kirgisien
Moskau/Bischkek. Was sich tags zuvor als Protest gegen steigende Abgaben anbahnte, eskalierte gestern zu bürgerkriegsartigen Auseinandersetzungen. Die Lage in Kirgisien ist unübersichtlich. Einige Nachrichtenquellen sprechen von 40 Toten. In mehreren Städten kam es zur gewalttätigen Auseinandersetzungen. Nach Angaben des kirgisischen Gesundheitsministeriums gab es bis gestern bereits 17 Tote und 200 Verletzte. Die Internetzeitung newsru.com berichtete von 40 Toten.
Oppositionsführer Omurbek Tekebajew sprach von bis zu 100 getöteten Demonstranten. Präsident Kurmanbek Bakijew verhängte über mehrere Gebiete Kirgistans den Ausnahmezustand. Doch ob Bakijew, der aus der verworrenen Tulpenrevolution 2005 als Sieger hervorging und letztes Jahr bei umstrittenen Wahlen wiedergewählt wurde, überhaupt noch die Macht über das Land hat, scheint ungewiss.
In mehreren Städten traten die Leiter der Verwaltungen zurück. In der Stadt Talas wurden die Innenbehörde gestürmt und ein Hotel geplündert. Bei Auseinandersetzungen zwischen aufgebrachten Demonstranten und Sicherheitskräften wurde der Innenminister, Moldomus Kongantiew, von Demonstranten schwer verletzt. Nach anderen Berichten ist der Innenminister bereits gestorben, was aber von einem Regierungssprecher bestritten wurde.
Vize-Ministerpräsident Akylbek Schaparow wurde in Talas von Demonstranten ein Auge ausgeschlagen. Neben Talas soll auch die Stadt Naryn in der Hand der spontan agierenden Demonstranten sein. Von der Provinz aus erreichte die Protestbewegung schließlich die Hauptstadt Bischkek. Dort stürmten und plünderten Demonstranten das Parlamentsgebäude. Zehntausend Menschen zogen dann vor das Weiße Haus, in dem der Präsident und die Regierung ihren Sitz haben. Soldaten gaben Warnschüsse in die Luft ab. Einige Scharfschützen hätten jedoch direkt in die Menge gehalten und acht Demonstranten getötet, berichtete Anton Beljakow, der Leiter einer russischen Parlamentariergruppe.
Der russische Fernsehkanal NTW zeigte Bilder von bewaffneten Demonstranten, der Kanal Rossija 1 filmte einen maskierten Demonstranten, der seine Kalaschnikow abfeuerte. NTW interviewte Demonstranten, die erklärten, "die Menschen sind so aufgebracht, die sind nicht mehr zu stoppen." Die Opposition hat zum Sturm aller Regierungsgebäude aufgerufen. Mehrere Fernsehsender wurden von der Opposition besetzt. Der internationale Flughafen Manas, in dessen Nähe sich auch der amerikanische Luftwaffenstützpunkt für den Afghanistan-Nachschub befindet, wurde geschlossen.
Fünf Jahre nach der Tulpenrevolution ziehen die verarmten Kirgisen wieder auf die Straße. Der damalige Sieger, der heutige Präsident Kurmanbek Bakijew, gilt als korrupt. Die Proteste in der ehemaligen Sowjetrepublik entzündeten sich an der Erhöhung der Kommunalabgaben und der Verhaftung mehrerer Oppositioneller. Kirgisien ist eine der ärmsten Republiken Zentralasiens. Die Wirtschaft lebt vor allem von den Einkommen kirgisischer Gastarbeiter in Russland sowie den Zahlungen der USA und Russland, die beide in dem Land Luftwaffenstützpunkte unterhalten.
Für Unzufriedenheit sorgt auch, dass Präsident Bakijew seinen Sohn Maksim als Nachfolger installieren will. Dieser leitet bereits die zentrale Agentur für wirtschaftliche Entwicklung. Ihm soll ein windiger Finanzberater aus den USA zur Seite stehen. Die Opposition befürchtet den Ausverkauf des Volksvermögens. Die Menschen sind empört, dass sich die neue Oberschicht, die sich nach der Tulpenrevolution etablierte, offenbar genauso korrupt ist wie die alte Elite um den 2005 gestürzten Präsidenten Askar Akajew.
"Thüringer Allgemeine"