MIGRATION: Kurswechsel im Kreml
Nach den Krawallen gegen Kaukasier bemüht sich Russland um eine bessere Integrationspolitik
MOSKAU - Aus den Lautsprechern tönt der Lennon-Song „Imagine“. Das sanfte Lied über eine Welt der Brüderlichkeit wirkt mitten in der Moskauer Innenstadt, wo es oft hektisch und grob zugeht, etwas deplatziert.
Doch für die 2500 Menschen, die sich Ende Dezember auf dem Puschkin-Platz versammeln, ist der Pop-Song die richtige Einstimmung. Sie demonstrieren gegen die ausländerfeindlichen Krawalle der letzten Wochen. Viele haben Angst. Am 11. Dezember hatten sich auf dem Manege-Platz, direkt vor dem Kreml, 7000 Jugendliche versammelt. Sie riefen „Russland den Russen“. Manche zeigten auch den Hitler-Gruß.
Die Jugend-Krawalle waren zunächst von Fußball-Fans ausgegangen. Sie protestierten, weil die Polizei mehrere Kaukasier freigelassen hatte, die sich an einer Schlägerei mit russischen Jugendlichen beteiligt hatten. Ein russischer Fußball-Fan war bei der Schlägerei getötet worden.
Die Menschen auf dem Puschkin-Platz wollten ein Signal gegen die Ausländerfeindlichkeit setzen. Der Filmregisseur Waleri Todorowski brachte die Stimmung der Versammelten auf den Punkt, als er erklärte, viele seiner Freunde und Bekannten schauten schon in den Spiegel, „um zu prüfen, ob sie ein slawisches Äußeres haben.“ Viele seiner Freunde hätten Angst, auf die Straße zu gehen.
Rechtsradikale Organisationen wie die „Bewegung gegen illegale Migration“ und „Slawische Kraft“ hatten die Jugend-Proteste aktiv geschürt. Doch der Kreml reagierte hilflos. Präsident Dmitri Medwedew ordnete an, gegen die Zusammenrottungen mit aller Härte vorzugehen. An mehreren Tagen wurden in Moskau jeweils mehr als 1000 Jugendliche kurzzeitig festgenommen. Außerdem plädierte der Kreml-Chef an die Eltern, sich besser um ihre Kinder zu kümmern. Viele der Randalierer waren erst zwischen 14 und 16 Jahre alt.
Erst zehn Tage nach Beginn der Krawalle gab es ein Signal der russischen Führung. Ministerpräsident Wladimir Putin versammelte russische und kaukasische Fußball-Fans und forderte von beiden Seiten Toleranz. Wenn die Ethnien im Vielvölkerstaat Russland nicht friedlich zusammenleben, werde das Land zerfallen und könne von fremden Mächten „auf die Knie gezwungen werden“, drohte der Premier.
Doch die Warnungen kommen spät. Schon seit Jahren hat sich unter den alteingesessenen Moskauern eine latente Unzufriedenheit entwickelt. Über kaukasische Händler, die auf den Märkten Gemüse und Obst verkaufen. Und über die zunehmende Zahl von Arbeitern aus den zentralasiatischen Republiken Tadschikistan, Usbekistan und Kirgistan, die in Moskau Hochhäuser bauen und Straßen fegen. Der Moloch Moskau ist süchtig nach billigen Arbeitskräften, aber niemand hat sich Gedanken gemacht, wie die Zuzügler integriert werden können.
Durch die Zuwanderung aus Zentralasien und dem Kaukasus hat sich der Anteil der muslimischen Bevölkerung in der Elf-Millionen-Stadt Moskau auf etwa zwei Millionen Menschen erhöht. Doch die Stadtverwaltung verweigert den Bau neuer Moscheen. Bisher gibt es nur vier Moscheen in der Hauptstadt, was zur Folge hat, dass die Muslime an Feiertagen vor den vier Gotteshäusern auf der Straße beten. Das wiederum empfinden viele alteingesessenen Moskauer als Zumutung.
Angesichts der aufgeheizten Debatte änderte der russische Präsident Dmitri Medwedew Ende Dezember kurzfristig das Thema der regulären Staatsrats-Sitzung. Statt über Geburtenförderung und Kinderbetreuung diskutierten die im großen Kreml-Saal versammelten Gouverneure und Minister über die Jugend-Krawalle und eine neue Migrationspolitik. Medwedew bemängelte, dass die Regionen zu wenig für eine Politik der Verständigung tun. Man könne sich dabei ruhig die Nationalitätenpolitik der USA zum Vorbild nehmen. Regierungschef Putin dagegen lobte die Nationalitätenpolitik der Sowjetunion, die angeblich Spannungen verhindert habe. Putin forderte auch die Verschärfung der Meldebestimmungen.
Doch der neue Moskauer Bürgermeister Sergej Sobjanin will lieber alle Migranten legalisieren. Nur so könne man überhaupt feststellen, wie viele Gastarbeiter in Russland leben. Zurzeit sind in Moskau 250 000 Arbeitsmigranten registriert. In Wirklichkeit seien es aber „einige Millionen“, so Sobjanin.
Putins Forderung, die Meldebestimmungen zu verschärfen, scheint bei dem hohen Grad an Korruption in Russland kaum praktikabel. Doch die Zeit rennt. Wenn der Kreml es nicht schafft, eine allseits akzeptierte Migrationspolitik zu entwickeln, drohen in Russland neue ausländerfeindliche Krawalle. (Von Ulrich Heyden)
veröffentlich in: Märkische Allgemeine