19. November 2014

Odessa: Im Hafen läufts wie geschmiert

Nach der Unterzeichnung des Assoziierungsabkommens der EU mit der Ukraine hofft man im Hafen von Odessa auf den Aufschwung. Doch die politische Krise blockiert vorerst noch vieles.
Für TouristInnen gibt es viel zu sehen. Ein Gang durch die Strassen von Odessa berührt. Die Akazien auf den breiten Bürgersteigen spenden angenehmen Schatten. Auf den Balkons sitzen junge Leute und unterhalten sich. Die Fassaden der alten Häuser mit ihren barocken Verzierungen, Jugendstilfresken, ihren Türmchen und Erkern, die Lässigkeit und Freundlichkeit der PassantInnen, das alles gibt einem das Gefühl, man sei am Mittelmeer oder in Paris und nicht in einem armen, postsowjetischen Land, das in den neunziger Jahren nur wegen seiner grossen Zahl Aidskranker in westlichen Medien Schlagzeilen machte.
Odessa wurde 1794 von der russischen Zarin Katharina der Grossen gegründet und nach dem Vorbild europäischer Hauptstädte schachbrettartig angelegt. Bei so viel Pracht und Charme ist es kein Wunder, dass sich Odessa in den letzten zehn Jahren wieder zum Magneten für TouristInnen aus dem Westen und aus Russland entwickelt hat. Fast 100 000 BesucherInnen sind 2013 allein mit den grossen Kreuzfahrtschiffen, die in Sichtweite der berühmten Potemkinschen Treppe festmachen, in die Stadt gekommen.

«Bei uns herrscht noch Feudalismus»

Doch dieses Jahr bleiben die Anlegestellen für die Reiseschiffe meist leer. Während im letzten Jahr über hundert der grossen Touristenschiffe in Odessa anlegten, waren es 2014 bis jetzt nur zwölf. Die Angst vor Krieg und Unruhen hält westliche wie russische TouristInnen fern. Viele UkrainerInnen hoffen, dass das Assoziierungsabkommen, das die Ukraine eben mit der EU abgeschlossen hat, Odessa zu neuer Blüte verhilft.

Allerdings hat die politische Krise der Stadt nicht nur Einnahmeausfälle beschert. Weil die Ukraine wegen der Annexion der Krim durch Russland fünf Häfen verloren hat, muss der Warenumschlag nun über ihre noch verbleibenden drei Containerhäfen in der Region Odessa – Illitschiwsk, Juschne und Odessa-Stadt – abgewickelt werden. Der Umschlag in Odessa stieg von Januar bis August dieses Jahres um elf Prozent. Positiv wirkt sich für den Hafen auch aus, dass die Ukraine immer mehr Getreide exportiert, da seit ein paar Jahren vermehrt in die Landwirtschaft investiert wird.

Der Hafen von Odessa liegt in einer Bucht, die sich wie ein Halbmond an das Stadtzentrum schmiegt. Auf dem Hafengelände gibt es neben dem Passagierterminal auch Terminals für Öl, Gas, Getreide, zwei Containerterminals, eine Werft und einen Eisenbahnanschluss. Insgesamt 400 Privatunternehmen sind auf dem staatlichen Hafengelände untergebracht. Ein grosser Teil der Unternehmen beschäftigt sich mit der Ent- und Beladung, mit dem Weitertransport der Ware und der technischen Versorgung der Schiffe.

Sergej* arbeitet seit elf Jahren im Hafen. Auch er hat grosse Hoffnungen, dass sich das Leben in der Ukraine nun durch das Assoziierungsabkommen verbessert. «Bei uns herrscht noch Feudalismus», sagt Sergej. «Wenn du auf deine Rechte pochst, sucht der Vorgesetzte Fehler in deiner Arbeit. So wird bei uns Kritik weggedrückt.» Und jetzt, wo in der Ostukraine Krieg herrsche, könne man «sowieso keine Forderungen stellen».

Sergej ist 35 Jahre alt, verheiratet und Vater eines Kinds. In den letzten elf Jahren hat er sich vom einfachen Docker zum Leiter einer Arbeitsbrigade hochgearbeitet. Sergej spürt den Aufschwung des Warenumschlags in Form langer Arbeitszeiten. Doch trotz seines Zwölfstundentags bringt er nur 6000 Griwna (430 Franken) im Monat nach Hause.

Jobs im Hafen sind begehrt, weil sie immer noch besser bezahlt werden als eine Anstellung in der übrigen Wirtschaft. Doch die Arbeitsbedingungen sind hart. Die Arbeiter, die die Ware in den Eisenbahnwaggons an den Kran hängen, hätten alle schon Verletzungen an Armen und Beinen, weiss Sergej. Immerhin sei man über den Betrieb krankenversichert – keine Selbstverständlichkeit in der Ukraine.

Warum er glaube, dass mit der EU-Assoziation alles besser werde? «Europa hat an die Ukraine bestimmte Forderungen gestellt. Die Löhne und Renten müssen erhöht, die Strassen, die Infrastruktur und die Verfassung verbessert werden», meint Sergej. Und von Europa erhoffe er sich, dass er als junger Mann «ein Anrecht auf eine Wohnung» habe. Bisher ist das nur ein Traum. Dass der Traum irgendwann Wirklichkeit wird, das traut er Präsident Petro Poroschenko zu. Der Schokoladenkönig habe gezeigt, dass er ein Unternehmen führen könne.

Schmiergelder als Lohnaufbesserung

Und wie sieht es mit der Selbstorganisation der Beschäftigten im Hafen aus? «Unsere Gewerkschaft wurde vom Unternehmensleiter gegründet», sagt Sergej. «Ja», schwärmt er, «in Europa kann man zur Gewerkschaft gehen, wenn man ein Problem mit dem Unternehmer hat, aber wenn man bei uns zur Gewerkschaft geht, wird einem sofort gekündigt.»

Wiktor Berestenko, Sekretär der Transportarbeitergewerkschaft in Odessa, sagt: «In Europa kämpfen die Gewerkschaften gegen die Unternehmer, wir kämpfen hier gegen das System.» Mit dem System meint Wiktor den Filz und die Korruption unter BeamtInnen und UnternehmerInnen, die die ganze Ukraine lähmen. Auch der Hafen leide unter der Korruption, denn der Zoll nutze seine Macht, um Schmiergelder zu kassieren. Wenn die VertreterInnen der Transportunternehmen bei der Abfertigung der Waren nicht zwanzig bis fünfzig US-Dollar zu den Abfertigungspapieren dazulegen, können sie lange warten. Aus Protest gegen diese Praxis gab es 2009 schon eine Strassenblockade von LastwagenfahrerInnen. Geändert hat sich jedoch nichts.

ZollbeamtInnen verdienen nur rund 185 Franken im Monat. Da ist Schmiergeld fast überlebenswichtig. Nun hofft die Hafenverwaltung, mit einem elektronischen System zur Erfassung aller Waren die Korruption stoppen und die Wartezeiten verkürzen zu können. Doch wer wenig verdient, wird auch im elektronischen System Schlupflöcher finden.

Wer hat Einfluss auf den Hafen?

Für die Ukraine sind ihre drei Schwarzmeerhäfen von grosser Bedeutung. Der Warenumschlag nimmt zu, obwohl Russland nun einen Teil seiner Importe nicht mehr über Odessa abwickelt, sondern auf andere Routen ausweicht. Waren aus China und der Türkei werden jetzt über den russischen Schwarzmeerhafen Noworossisk geleitet. Eine mögliche Besetzung Odessas durch russlandnahe Kräfte wäre für die neue Regierung eine Katastrophe. Würde der Traum der SeparatistInnen vom neuen Staat Noworossia im Südosten der Ukraine wahr, wäre die Zentralukraine komplett vom Schwarzen Meer abgeschnitten.

Die Gefahr, dass Odessa in die Hand der SeparatistInnen fällt, ist zurzeit jedoch gering. Seit dem Brand im Gewerkschaftshaus am 2. Mai, bei dem Dutzende RegierungskritikerInnen ums Leben kamen (siehe WOZ Nr. 33/14), gibt es keine grossen regierungsfeindlichen Demonstrationen mehr. Hartnäckig halten sich die Gerüchte, dass Ihor Kolomoiski, Oligarch und Gouverneur von Dnipropetrowsk, den Überfall auf das Gewerkschaftshaus mit eingefädelt hat. Kolomoiski ist Besitzer der Privat Group, eines undurchsichtigen Firmenkonglomerats, zu dem die grösste Bank des Landes sowie Medien- und Energieunternehmen gehören (siehe WOZ Nr. 14/14). Nach dem Brand im Gewerkschaftshaus wurde der Gouverneur von Odessa durch Ihor Paliza ersetzt, bis dahin Manager der Privat Bank. Kolomoiski soll daran interessiert sein, seinen Einfluss über den Hafen auszuweiten.

Um den steigenden Getreideexport der Ukraine bewältigen zu können, baut das ukrainisch-britische Hafenunternehmen Brooklyn-Kiev in Odessa zurzeit einen neuen Getreideterminal mit riesigen Silos und neuer Technik für die Beladung von Schiffen. Der erste Teil des neuen Terminals wurde im Oktober letzten Jahrs eingeweiht. Um ihn zu bewirtschaften, bildete Brooklyn-Kiev zusammen mit der Handelsfirma Louis Dreyfus Commodities ein Gemeinschaftsunternehmen. Finanzierungsprobleme gibt es offenbar nicht: Die Europäische Bank für Entwicklung und Wiederaufbau wird den Bau des neuen Getreideterminals mit einem Kredit von 46 Millionen Euro unterstützen.

Das Interesse Europas an der Ukraine als Absatzmarkt und Lieferantin von Getreide und Rohstoffen ist gross. So betreibt auch die deutsche HPC Ukraina, ein Tochterunternehmen des halbstaatlichen Hamburger Hafenkonzerns HHLA, seit 2001 einen Containerterminal im Hafen von Odessa. Durch die Aufschüttung von Gelände ist die Umschlagkapazität bei HPC Ukraina in diesem Jahr auf 1,3 Millionen Container jährlich gestiegen.

Bis 2013 waren Russland und die Ukraine wirtschaftlich aufs engste vernetzt. Russland war für die Ukraine mit 38,2 Milliarden US-Dollar der wichtigste Handelspartner. Mit grossem Abstand folgten die Volksrepublik China mit 10,6 Milliarden Dollar und Deutschland mit 8,4 Milliarden Dollar. Die Hamburger HafenexpertInnen haben vorausschauend geplant: Die Assoziierung der Ukraine mit der EU wird das Hafengeschäft beleben. Wie viel allerdings an Handel mit Russland verloren geht, bleibt offen.

* Name geändert.

Das Schwarze Meer

Machtkampf mit Pipelines und Fregatten

Nach dem Zerfall der Sowjetunion haben Energiefirmen aus den USA und Britannien dafür gesorgt, dass neue Gas- und Ölpipelines vom Kaspischen Meer unter Umgehung Russlands Richtung Westen gebaut wurden. Seit 1999 fliesst Öl aus dem aserbaidschanischen Baku in die georgische Schwarzmeerstadt Supsa, und seit 2005 fliesst für westliche Märkte bestimmtes Öl aus Baku in die südtürkische Hafenstadt Ceyhan.

Russland reagierte mit eigenen Pipelineprojekten. Blue Stream versorgt seit 2005 die Türkei mit russischem Gas. Ab 2015 will Russland über die Pipeline South Stream auch Südeuropa mit Gas versorgen. Das Konkurrenzprojekt der EU, die Nabucco-Pipeline, wurde 2013 wegen Finanzierungsproblemen eingestellt.

Die Nato ist am Schwarzen Meer mit der Türkei und seit 2004 auch mit Rumänien und Bulgarien vertreten. Anfang September hat die Nato im Schwarzen Meer das Manöver «Sea Breeze» abgehalten. Beteiligt waren zwölf Schiffe aus den USA, der Ukraine, Kanada, Spanien, Rumänien und der Türkei; geübt wurde «eine sichere Schifffahrt in einem Krisengebiet». Russland kritisierte das Manöver als «völlig unpassend». Beim zweitägigen «Passex»-Manöver, das Mitte September in den territorialen Gewässern von Rumänien stattfand, waren zwei Schiffe aus Rumänien sowie jeweils eine Fregatte aus Bulgarien, Spanien und Kanada beteiligt.

veröffentlicht in: Die Wochenzeitung (Zürich)
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