19. March 2011

Putin trotzt der Atom-Angst

Von Ulrich Heyden, SZ-Korrespondent in Moskau

Die Angst der Russen vor Radioaktivität an der Grenze zu Japan wächst – doch ihr Ministerpräsident steht ihnen bei und fährt nach Sachalin.

In Russlands Fernem Osten, dort an der Grenze zu Japan, wächst die Angst. In Wladiwostok waren alle Jod-Tabletten innerhalb von einem halben Tag ausverkauft, berichtete eine Apothekerin am Freitag im staatlichen TV-Sender Pervi Kanal. In den Geschäften stark gefragt ist auch Rotwein. Schon 1986, nach dem Tschernobyl-Unglück, meinten viele, sie könnten sich mit Rotwein gegen Cäsium137 schützen. Ein Renner in Wladiwostok sind zurzeit auch Dosimeter zu Preisen von 100 bis 700 Euro. Die Nachfrage nach Flugtickets von der Insel Sachalin nach Moskau, sei so stark gestiegen, dass die russische Fluggesellschaft Transaero jetzt zusätzliche Flüge anbietet, berichtete die regierungsnahe „Iswestija“.

Webcam zeigt Strahlung


Um die Befürchtungen der Bürger der Fernost-Insel Sachalin zu zerstreuen, überträgt das russische Notstandsministerium in der Stadt Juschno-Sachalinsk auf seiner Website jetzt über eine Webcam die Anzeige eines Strahlenmessgeräts. Doch den offiziellen Angaben des Notstandsministeriums, dass sich die radioaktive Belastung der Luft im zulässigen Bereich bewegt, trauen die Menschen in den Großstädten Juschno-Sachalinsk und Wladiwostok nicht.

Dass sich die Menschen im russischen Fernen Osten sorgen und einige sogar in Panik verfallen, haben sich die Behörden allerdings selbst zuzuschreiben. Denn eine Aufklärung darüber, was im Ernstfall zu tun ist und auf welche Nahrungsmittel man besser verzichten sollte, gibt es nicht. Auch eine Debatte über die Vor- und Nachteile von Atomkraftwerken wird in Russland nicht geführt. Dass die Sorgen in der Bevölkerung zunehmen, ist offenbar der Grund, warum Wladimir Putin am Wochenende nach Sachalin fliegt. Auf der Insel leben eine halbe Million Menschen. Offiziell ist die Reise lange geplant. Putin wolle eine neue autonome Gasversorgung für die Privathaushalte einweihen. Doch der Moskauer „Kommersant“ vermutet, dass Putin nach Sachalin kommt, um die Leute zu beruhigen.

Eine Umfrage des Radiosenders Echo Moskau ergab, dass 70 Prozent der Hörer den offiziellen Angaben des Notstandsministeriums über den Grad der Luftverschmutzung durch Radionuklide nicht trauen. Das ist nicht verwunderlich. Seit der Reaktorkatastrophe von Tschernobyl sind die Russen höchst misstrauisch.

Kein Stopp an 28 Reaktoren

Für Russlands Atomindustrie, die in vielen Ländern an AKW-Projekten beteiligt ist, haben sich die Geschäftsaussichten durch Fukushima verschlechtert. Putin erklärte zwar, an dem geplanten Neubau von 28 Reaktoren in Russland keine Abstriche zu machen. Demonstrativ unterzeichnete er am Mittwoch einen Vertrag über den Bau eines AKW in Weißrussland. Doch wenn jetzt wichtige Kunden wie China und Venezuela Abstriche bei Neubauten ankündigen, sind das möglicherweise nur Vorboten einer neuen Tendenz. Die Zukunft beim AKW-Export, ist vielleicht doch nicht so rosig, wie es sich die russische Atombehörde ausgemalt hat.

veröffentlicht in: Sächsische Zeitung
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