„Es war die bisher schwerste Etappe der Spezialoperation.“ Mit diesen nüchternen Worten beschrieb der russische Kriegsreporter Jefgeni Poddubnij, der für den russischen Fernsehkanal Rossija 24 berichtet, den zweiten Rückzug der russischen Armee in der Ukraine seit Ende Februar. Ende März hatte sich die russische Armee bereits von Kiew zurückgezogen. Auch damals sprach der russische Generalstab von „Umgruppierung“.
Während die deutschen Medien am Sonntag mit Live-Schaltungen und großen Schlagzeilen über den Erfolg der ukrainischen Armee berichteten, waren die Berichte über den Rückzug in russischen Medien rar und fast versteckt. „Moskowski Komsomolez“ und „Nesawisimaja Gaseta“ wählten neutrale Überschriften und der „Kommersant“ berichtete überhaupt nicht über den russischen Rückzug aus dem Gebiet Charkow.
Schock …
Für viele russische Patrioten waren die Nachrichten aus dem Gebiet Charkow, die in den letzten Tagen vor allem in den sozialen Medien bekannt wurden, ein Schock. Gab es im russischen Internet nicht zuhauf Berichte, dass Selenski nicht der Feldherr sei, für den er sich hält, sondern ein „Narkoman“, ein Drogenabhängiger eben. Und nun das.
Der russische Starmoderator Dmitri Kiseljow, der jeden Sonntagabend den Wochenüberblick moderiert, gestand immerhin ein, dass in den von russischen Truppen geräumten Städten im Gebiet Charkow nun die Jagd auf „Kollaborateure Moskaus“ beginnt. „Das ist bitter,“ sagte der Moderator und drückte damit das aus, was viele Russen jetzt beschäftigt: dass Russland die eigenen Leute in der Ukraine im Stich gelassen hat.
… und Scham
Eine Russin sagte mir gegenüber, sie erinnere das, was im Gebiet Charkow passiert ist, an den Abzug der Amerikaner aus Kabul. Sie schäme sich für Russland.
Nicht nur diejenigen, die in der neuaufgebauten Verwaltung der von Russland kontrollierten Gebiete mitwirkten, sondern auch diejenigen, die humanitäre Hilfe von Russland annahmen, gelten aus Kiewer Sicht als Feinde. Sie erwarten Verhöre, Haft, Folter und möglicherweise auch der Tod.
Der russische Kriegsreporter Jefgeni Poddubnij bringt die Erwartungshaltung vieler Russen auf den Punkt. Im Schlusswort seiner Reportage sagt er, „Kiew und die Staaten der Nato haben ihren Zug gemacht. Jetzt sind unsere Militär-Führer an der Reihe“ (einen Zug zu machen).
Doch der russische Generalstab schwieg am Sonntag und auch am Montag. Man teilte nur mit, dass die russischen Truppen im Gebiet Charkow „umgruppiert“ werden. Sie würden jetzt Richtung Donbass in Bewegung gesetzt, um bei der Befreiung des Gebietes Donezk zu unterstützen.
Ramsan Kadyrow kündigt Rückeroberung an
Die russische Tageszeitung „Moskowski Komsomolez“ versuchte, Optimismus zu verbreiten. Sie zitierte am Montag das Oberhaupt der Kaukasusrepublik Tschetschenien, Ramsan Kadyrow. Dieser erklärt gegenüber dem Blatt, das russische Verteidigungsministerium habe „Fehler gemacht. Ich denke, sie ziehen daraus Schlüsse.“ Die verlorenen Städte im Gebiet Charkow werden man „zurückerobern“. Im Gebiet Charkow befänden sich schon tschetschenische Kämpfer, die für die Rückeroberung speziell ausgerüstet seien. „Und weitere 10.000 Kämpfer sind bereit für den Einsatz. In naher Zukunft gehen wir bis nach Odessa.“
Die Worte von Kadyrow hören sich an nach Kraftmeierei. Doch in Mariupol hatten tschetschenische Einheiten entscheidenden Anteil bei der Eroberung der Stadt.
Kadyrow erklärte, die schwierige Situation im Gebiet Charkow sei vom ukrainischen „Zentrum für informations-psychologische Operationen“ mit Falschmeldungen angeheizt worden. Das Zentrum habe Falschmeldungen über die Aufgabe von Orten durch die russische Armee, den Rücktritt von pro-russischen Amtsträgern und die Eroberung des Flughafens von Donezk durch ukrainische Truppen verbreitet.
Die Gründe für den Erfolg der ukrainischen Truppen
Die vermutlich fundierteste Analyse der russischen Niederlage kommt vom russischen Militärexperten Juri Podoljaka. Nach Meinung des Experten gelang den ukrainischen Truppen die Eroberung des Charkow-Gebietes, weil sie mit schwerer Artillerie einen Großangriff bei der Stadt Charkow vorgetäuscht und danach in den südlich der Stadt gelegenen Gebieten mit relativ leicht bewaffneten Einheiten in Hummer-Fahrzeugen große Flächen eroberten.
Man müsse eingestehen, so Podoljaka, dass die Kommunikation zwischen der Artillerie und der Infanterie auf ukrainischer Seite „nur Minuten“ brauche, während auf russischer Seite „30 bis 40 Minuten“ die Regel seien. In dieser Zeit seien die leicht bewaffneten Einheiten der Ukrainer schon 50 Kilometer vorgerückt, so dass die Schläge der russischen Artillerie ins Leere gingen.
Ein weiterer Grund für den Erfolg der ukrainischen Truppen sei – so Podoljaka – die Tatsache, dass die Kiewer Truppen – zwischen 10.000 und 30.000 Mann – monatelang von westlichen Beratern geschult und während des Kampfes mit real-time-Aufklärungsdaten der Nato versorgt wurden.
Russischer Angriff auf Strom-Kraftwerke
Die Führung der russischen Armee blieb angesichts des Erfolges der ukrainischen Truppen im Gebiet Charkow wortkarg, reagierte aber militärisch. Am Sonntagabend schoss die russische Marine vom Kaspischen Meer aus Raketen auf stromerzeugende Kraftwerke in den Gebieten Charkow und Krementschuk ab. Das Kraftwerk bei Charkow geriet in Brand.
Offenbar in Folge der Angriffe mit Kaliber-Raketen und dem Herunterfahren des letzten noch arbeitenden Reaktors im Atomkraftwerk Saparoschje fiel am Sonntagabend dann in fünf südostukrainischen Regionen der Strom ganz oder teilweise aus, berichteten russische Medien.
Die russische Internetzeitung Vsglyad erinnerte daran, dass die ukrainische Armee seit acht Jahren gezielt Infrastruktur-Objekte in den Volksrepubliken Donezk und Lugansk beschießt. Seit dem 1. September würde zudem das Atomkraftwerk Saparoschje und die nahegelegene Stadt Energodar von der ukrainischen Artillerie beschossen. Außerdem seien als Folge ukrainischen Beschusses drei Bergwerksschächte in der „Volksrepublik” Donezk ohne Strom gewesen, weshalb zahlreiche Bergarbeiter unter Tage eingeschlossen waren. Am 10. September wurden zudem in der Stadt Donezk zehn Umspann-Stationen beschädigt, wodurch 1.600 zivile Objekte ohne Elektrizität waren.