1. December 2012

Russischer Gouverneur folgt dem chinesischen Vorbild

Ulrich Heyden
Foto: Ulrich Heyden

Mit Steuervergünstigungen und Industrieparks schaffte die südlich von Moskau gelegene Region Kaluga den Sprung in die moderne Massenfertigung. Gewerkschafter klagen über Drangsalierungen und Überfälle

Wenn man das neue Verwaltungsgebäude von Samsung im Gebiet Kaluga betritt, verschlägt es einem glatt die Sprache. Eben fuhr man noch über staubige Landstraßen, vorbei an Wiesen und alten russischen Bauernhäusern. Nun steht man plötzlich in einem piekfeinen Foyer. Koreaner in weißen Kitteln huschen an einem vorbei. Und ein Blick auf zwei großen Uhren über dem langen Empfangstisch zeigt, dass man sich in einem Weltkonzern befindet. Die eine Uhr zeigt die Zeit von Moskau, die andere die Zeit von Seoul an.

Das Herz der Samsung-Fabrik im Gebiet Kaluga ist eine Produktionshalle mit ziemlich niedriger Decke. In dem hell erleuchteten, klinisch reinen Raum, stehen vollautomatische Chip-Mounter, die alle 25 Sekunden eine komplett mit Mikrochips bestückte Platine ausspucken. Die Fabrik beschäftigt in der ersten Jahreshälfte 1.500 Mitarbeiter. In der zweiten Jahreshälfte, wenn die Produktion anzieht, wird die Belegschaft über eine Leiharbeitsfirma auf insgesamt 2.000 Mitarbeiter aufgestockt.

Der Output ist enorm. 2011 verließen 5,5 Millionen Fernseher und Monitore die Werkshallen der überschaubar-kleinen Fabrik. Von Kaluga aus beliefert Samsung nicht nur Russland und die ehemaligen Sowjetrepubliken, wie die Ukraine, Kasachstan und Weißrussland sondern auch Polen und Ungarn.

Zur Überwachung der vollautomatischen Platinen-Produktion sind vor allem junge Frauen eingesetzt. Es herrscht eine strenge Arbeitsdisziplin. Gleich am Eingang gibt es Hinweis-Schilder, was alles verboten ist: Kaugummi, Schmuck, Essen, Handys, Piercing. Der Grund ist einfach: Die Maschinen sind kostbar und hochempfindlich. Die Arbeiterinnen verdienen 625 Euro. Ein Drittel des Lohnes sind Leistungszuschläge.

Die russische Computer-Firma Kraftway bezieht alle Komponenten aus Südostasien. Bild: Ulrich Heyden

Statt einer Gewerkschaft gibt es bei Samsung-Kaluga ein Smart Managment Committee (SMC), dass sich mit Kultur- und Sportveranstaltungen um ein gutes Betriebsklima und ein Zusammengehörigkeitsgefühl der Belegschaft bemüht. Trotzdem ist die Fluktuation bei Samsung groß. Nur vierzig Prozent der Belegschaft sind länger als ein Jahr beschäftigt, gesteht Finanzdirektor Ju Cheul Woo bei einem Treffen mit Journalisten ein.

Über Steueranreize fördert die russische Regierung, wenn ausländische Unternehmen die Komponenten und Rohstoffe für ihre Produkte in Russland erwerben und nicht importieren. Doch wie der Samsung-Manager erklärt, sei die Qualität der russischen Komponenten nicht ausreichend, weshalb man 40 Prozent der Einzelteile aus China bezieht. Der Transport aus China dauert 50 Tage. Aus Russland kommt nur Karton und Plastikmasse für die Gehäuse der Fernseher.

Hilflosigkeit in den 1990er Jahren

Es war kein leichter Weg, Kaluga zur neuen russischen Wachstumsregion zu machen. 2006 begann der Gouverneur des Kaluga-Gebiets, Anatolij Artamonow, Investoren mit Steuervergünstigungen und Hilfe bei der Infrastruktur anzulocken. Das Konzept hatte sich der 60-Jährige, der seit 1996 im Amt ist und vorher eine Zeitlang in einer Baufirma arbeitete, aus China abgeguckt. Und es klappte.

Arbeiterdenkmal aus der Perestroika-Zeit. Bild: Ulrich Heyden

Ein ausländischer Investor nach dem anderen beschloss im Gebiet Kaluga eine Fabrik zu bauen. Angelockt wurden vor allem internationale Unternehmen aus dem Automobil-Sektor, aber auch aus der Chemie- und Pharma-Branche. Volkswagen, das Gemeinschaftsunternehmen Peugeot-Citroen-Mitsubishi-Auto (PCMA), Volvo Trucks und die Zulieferer Magna und Benteler produzieren seit mehreren Jahren im Kaluga-Gebiet. Zwei chinesische Firmen wollen jeweils eine Zement- und eine Glasfabrik bauen. Die Glasfabrik soll das Volkswagen-Werk beliefern.

Die alte Maschinenfabrik. Bild: Ulrich Heyden

Nicht nur für Autofirmen, welche den wachsenden russischen Automarkt im Blick haben, ist es steuerlich günstiger, in Russland zu produzieren, denn die Importzölle für fertige Produkte sind höher als die Steuern für Rohstoffe und Vorprodukte, die aus Russland kommen.

Zufriedener Schwabe

Vom Hotel Ambassador am Rande der Stadt hat man einen Blick auf das VW-Werk, welches 2007 eröffnet wurde. Von dem Boom in der Region profitiert auch das Vier-Sterne-Hotel. "Unser Haus ist gut besucht", erzählt Jürgen Kazmeier, der das schicke Haus seit der Eröffnung im letzten Jahr leitet. Wie er sich in Russland fühlt? "Russland ist schwer zu begreifen aber es ist schön hier zu arbeiten." Der Hotel-Direktor, der selbst aus dem Großraum Stuttgart kommt, schwärmt von der "ganz anderen Dynamik", die es in Russland gibt. In seinem Hotel ist Kazmeier vor allem von jungen Leuten umgeben, in Deutschland, so witzelt der Schwabe, habe er vor allem mit "Bedenken-Trägern über 50" zu tun.

Die jungen Russen wollten die Zukunft, "und zwar sehr schnell", meint der Hotel-Chef. Die russische Regierung stehe deshalb ziemlich unter Druck. Das sei so eine Stimmung wie in Westdeutschland in den 60er und 70er Jahren.

Inzwischen leben in Kaluga etwa 1.000 Ausländer, die als Manager und Fachkräfte in den neuen Firmen tätig sind. Einer von ihnen ist Giuseppe Rodo. Der Spanier ist General-Manager des Presswerkes Gestamp, welches das Volkswagen-Werk beliefert. In den riesigen Hallen des spanischen Unternehmens stehen hochmoderne Pressen, die mit einem Druck von 1.500-Tonnen arbeiten. Was er Investoren aus dem Westen rät? Rodo muss nicht lange überlegen. Es sei ein Vorurteil, dass es in Russland gefährlich ist. Investoren können nach Russland kommen, so wie sie auch nach Deutschland kommen. Bloß müsse man sich vor einer Investition in Russland über die Besonderheiten des Landes informieren, wie die Zoll-Formalitäten und das rechtliche Umfeld.

Presswerk der spanischen Firma Gestamp. Bild: Ulrich Heyden

Rodo kommt aus Barcelona. "Die Kälte im Winter macht mir nichts. Was mir fehlt ist die Sonne", sagt der Manager, der mit seiner Familie im Zentrum der Stadt lebt, wo inzwischen viele Ausländer wohnen und wo es gute Restaurants wie den "Pub 102" oder das argentinische Steak-Restaurant gibt. Im Sommer geht Giuseppe gerne Fischen.

Während unten vom Hof des Hotels Ambassador noch die Stimmen deutscher Gäste zu hören sind, die gerade aus der gegenüberliegenden Grill-Bar kommen, jagt auf der Straße Richtung VW-Werk eine Kolonne von russischen Zubringer-Bussen vorbei. Die Busse holen die Arbeiter kostenlos aus einem Umkreis von 100 Kilometern aus Dörfern und Kleinstädten zur Nachtschicht ab.

VW will noch ein Motorenwerk bauen

Der Automarkt in Russland expandiert. 2011 wurden zwischen Kaliningrad und Wladiwostok 2,5 Millionen Autos verkauft, 40 Prozent mehr als 2010. Für 2012 rechnen Experten mit drei Millionen verkauften Autos.

Eingang zur VW-Fabrik. Bild: Ulrich Heyden

Für Volkswagen hat sich der Bau der Fabrik in Kaluga gelohnt. Der Verkauf der Volkswagen-Gruppe in Russland stieg im ersten Halbjahr 2012 allein um 78 Prozent. VW hat in Russland jetzt einen Marktanteil von 8,8 Prozent. Wegen der guten Entwicklung des Marktes hat sich das Management entschlossen, in Kaluga noch ein Motoren-Werk zu bauen.

Nach den Plänen der Betriebsleitung werden die 6.000 VW-Arbeiter in Kaluga in diesem Jahr 160.000 Fahrzeuge der Marken Tiguan, Polo Sedan, Octavia und Fabia produzieren. Wegen des Mangels an modern ausgebildeten Fachkräften bildet VW seit zwei Jahren auch selber aus.

Das VW-Werk in Kaluga begann 2007 als verlängerte Werkbank der VW-Fabriken in Tschechien, der Slowakei und Deutschland von wo seit 2007 Einzelteile geliefert wurden. Dann kamen 130 Roboter, die im neuen "Body-Shop" Auto-Chassis zusammenschweißen. Karosserie-Teile bezieht man von dem Presswerk der spanischen Firma Gestamp, das gleich nebenan steht.

Neuer Industriepark rund um die VW-Fabrik. Bild: Ulrich Heyden

Bei der Auswahl der Arbeitskräfte nimmt sich VW Zeit. Man holt die Arbeiter nicht direkt von der Straße, sondern stellt Leute ein, die sich vorher ein halbes Jahr als Leiharbeiter bewährt haben. Nach der offiziellen Einstellung müsse die Mitarbeiter nochmal eine dreimonatige Probezeit absolvieren.

Gegen die starke Position der Leiharbeitsfirmen und die erheblichen Lohnunterschiede zwischen Festangestellten und Leiharbeitern protestiert die "Interregionale Gewerkschaft der Automobilarbeiter" (MPRA), die bei Volkswagen 1.200 Mitglieder hat, bisher jedoch ohne wirklichen Erfolg.

Streik bei deutschem Automobilzulieferer Benteler

Gouverneur Artamonow wacht - so hört man von Managern in Kaluga - darüber, dass die neu angesiedelten Unternehmen in der Region den regionalen Durchschnittslohn einhalten und sich wegen des Mangels an gut qualifizierten Arbeitskräften nicht gegenseitig Arbeiter abwerben. Doch die Gewerkschafts-Aktivitäten für die Erhöhung der Löhne in der Region nehmen zu. Als im März die Beschäftigten des deutschen Automobil-Zulieferers Benteler wegen Lohnforderungen für fünf Tage die Arbeit niederlegten schlug die Nachricht in der Region wie eine Bombe ein.

Gouverneur Anatoli Artamonow. Bild: Ulrich Heyden

Die Anwohnern von Kaluga reagierten auf den Streik mit Sympathie, denn das Lohnniveau von durchschnittlich 625 Euro gilt unter den Bewohnern der Region als zu niedrig. Immer wieder hört man in Gesprächen, dass man im zweieinhalb Bahnstunden entfernten Moskau mehr als das Doppelte verdienen könne.

Den von der unabhängigen Automobilarbeitergewerkschaft MPRA organisierten Streik bei Benteler bezeichnet Gouverneur Artamonow im Gespräch als "lehrreich" für die Unternehmen, die bisher "keine Gewerkschaft im Haus haben wollten". Diese Unternehmen würden jetzt selbst nach Gewerkschaften rufen, allerdings nicht nach der MPRA. Die sei "politisiert", meint der Gouverneur, der sich an den Gesprächen zur Beilegung des Streiks bei Benteler einschaltete. Es sei darum gegangen, einen "Zündfunken" zu verhindern.

Der Streik bei Benteler hatte auch direkte Auswirkungen auf Volkswagen. Dort entschied man sich immerhin mit der Automobilarbeitergewerkschaft MPRA einen betrieblichen Tarifvertrag abzuschließen.

Überfälle auf Gewerkschafter

Die 2006 bei Ford in St. Petersburg gegründete Gewerkschaft MPRA spielt in Russland eine Pionier-Rolle in den zahlreichen neuen Unternehmen ausländischer Automobilfirmen. 2007 konnte die Gewerkschaft, die eine wesentlich aktivere Politik macht als die staatsnahe FNPR bei einem Streik im Ford-Werk bei St. Petersburg eine Lohnerhöhung von ca. 20 Prozent durchsetzen.

VW-Werkschutz. Bild: Ulrich Heyden

Das Verhältnis der jungen Automobilarbeiter-Gewerkschaft zu den Unternehmensleitungen ist gespannt. Gelegentlich kommt es sogar zu tätlichen Übergriffen von Werkschützern gegen Aktivisten. Ende Oktober kam es im Gebiet Kaluga zu einem erneuten Zwischenfall. Werkschützer warfen die Gewerkschaftsaktivisten Dmitri Koschnjew und Olga Masson beim Flugblatt-Verteilen auf dem Parkplatz vor dem Werkstor von PCMA zu Boden.

Beim Benteler-Streik standen mit Helmen und Schlagstöcken ausgerüstete Mitglieder der Polizei-Sondereinheit OMON in Sichtweite der Streikenden. Mitte Oktober wurde der Streikführer von der Firma Benteler entlassen. Doch der Versuch des Automobilzulieferers, den Streik vor Gericht als ungesetzlich zu verurteilen, scheiterte. Bereits im Mai hatten Polizisten versucht, in das MPRA-Büro einzudringen, um ein Gewerkschaftsmitglied zum Armeedienst abzuholen.

Gouverneur Artamanow bemüht sich um das Image des Landesvaters und tut die Gewerkschaftsaktionen als Randproblem ab. Doch die Gewerkschaftsforderungen nach einer Erhöhung des Mindestlohns auf Dauer abzublocken, wird keinen Erfolg haben, das zeigen Beispiele in Ländern wie China, Indien und Brasilien. Und die internationalen Gewerkschaftsverbände, wie der Internationale Metallarbeiterverband und die IG Metall, sind sehr daran interessiert, dass sich Russland nicht zum Niedriglohnland entwickelt, weshalb man die jungen russischen Gewerkschafter intensiv schult und zum Erfahrungsaustausch einlädt

Ulrich Heyden

veröffentlicht in: Telepolis

 

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